Drittes Buch.
108.
Neue Kämpfe. — Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Höhle, — einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. — Und wir — wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!
109.
Hüten wir uns! — Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es Jene thun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort „Maschine“ eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns, etwas so Formvolles, wie die kyklischen Bewegungen unserer Nachbar-Sterne überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstrasse lässt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen giebt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht: die Bildung des Organischen. Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen. Von unserer Vernunft aus geurtheilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf, — und zuletzt ist selbst das Wort „verunglückter Wurf“ schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schliesst. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urtheile getroffen! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur Nothwendigkeiten: da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der gehorcht, Keiner, der übertritt. Wenn ihr wisst, dass es keine Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall giebt: denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort „Zufall“ einen Sinn. Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art. — Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es giebt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!
110.
Ursprung der Erkenntniss. — Der Intellect hat ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf für sich und seinen Nachwuchs mit grösserem Glücke. Solche irrthümliche Glaubenssätze, die immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand wurden, sind zum Beispiel diese: dass es dauernde Dinge gebe, dass es gleiche Dinge gebe, dass es Dinge, Stoffe, Körper gebe, dass ein Ding Das sei, als was es erscheine, dass unser Wollen frei sei, dass was für mich gut ist, auch an und für sich gut sei. Sehr spät erst traten die Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf, — sehr spät erst trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der Erkenntniss. Es schien, dass man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; alle seine höheren Functionen, die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten Grundirrthümern. Mehr noch: jene Sätze wurden selbst innerhalb der Erkenntniss zu den Normen, nach denen man „wahr“ und „unwahr“ bemass — bis hinein in die entlegensten Gegenden der reinen Logik. Also: die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung. Wo Leben und Erkennen in Widerspruch zu kommen schienen, ist nie ernstlich gekämpft worden; da galt Leugnung und Zweifel als Tollheit. Jene Ausnahme-Denker, wie die Eleaten, welche trotzdem die Gegensätze der natürlichen Irrthümer aufstellten und festhielten, glaubten daran, dass es möglich sei, dieses Gegentheil auch zu leben: sie erfanden den Weisen als den Menschen der Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität der Anschauung, als Eins und Alles zugleich, mit einem eigenen Vermögen für jene umgekehrte Erkenntniss; sie waren des Glaubens, dass ihre Erkenntniss zugleich das Princip des Lebens sei. Um diess Alles aber behaupten zu können, mussten sie sich über ihren eigenen Zustand täuschen: sie mussten sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen und überhaupt die Vernunft als völlig freie, sich selbst entsprungene Activität fassen; sie hielten sich die Augen dafür zu, dass auch sie im Widersprechen gegen das Gültige, oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen gekommen waren. Die feinere Entwickelung der Redlichkeit und der Skepsis machte endlich auch diese Menschen unmöglich; auch ihr Leben und Urtheilen ergab sich als abhängig von den uralten Trieben und Grundirrthümern alles empfindenden Daseins. — Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben anwendbar erschienen, weil sich beide mit den Grundirrthümern vertrugen, wo also über den höheren oder geringeren Grad des Nutzens für das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Aeusserungen eines intellectuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele. Allmählich füllte sich das menschliche Gehirn mit solchen Urtheilen und Ueberzeugungen, so entstand in diesem Knäuel Gährung, Kampf und Machtgelüst. Nützlichkeit und Lust nicht nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei in dem Kampfe um die „Wahrheiten“; der intellectuelle Kampf wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde —: das Erkennen und das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfniss in die anderen Bedürfnisse ein. Von da an war nicht nur der Glaube und die Ueberzeugung, sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Misstrauen, der Widerspruch eine Macht, alle „bösen“ Instincte waren der Erkenntniss untergeordnet und in ihren Dienst gestellt und bekamen den Glanz des Erlaubten, Geehrten, Nützlichen und zuletzt das Auge und die Unschuld des Guten. Die Erkenntniss wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht: bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrthümer auf einander stiessen, beide als Leben, beide als Macht, beide in dem selben Menschen. Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat. Im Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles Andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? — das ist die Frage, das ist das Experiment.
111.
Herkunft des Logischen. — Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiss aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muss. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen, giengen zu Grunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer zum Beispiel das „Gleiche“ nicht oft genug aufzufinden wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen Thiere, wer also zu langsam subsumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Aehnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der überwiegende Hang aber, das Aehnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang — denn es giebt an sich nichts Gleiches —, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso musste, damit der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, — lange Zeit das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein; die nicht genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche Alles „im Flusse“ sahen. An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schliessen, jeder skeptische Hang eine grosse Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urtheil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urtheilen als gerecht zu sein — ausserordentlich stark angezüchtet worden wäre. — Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirne entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab.
112.
Ursache und Wirkung. — „Erklärung“ nennen wir’s: aber „Beschreibung“ ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntniss und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser, — wir erklären ebenso wenig wie alle Früheren. Wir haben da ein vielfaches Nacheinander aufgedeckt, wo der naive Mensch und Forscher älterer Culturen nur Zweierlei sah, „Ursache“ und „Wirkung“, wie die Rede lautete; wir haben das Bild des Werdens vervollkommnet, aber sind über das Bild, hinter das Bild nicht hinaus gekommen. Die Reihe der „Ursachen“ steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns, wir schliessen: diess und das muss erst vorangehen, damit jenes folge, — aber begriffen haben wir damit Nichts. Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden, erscheint nach wie vor als ein „Wunder“, ebenso jede Fortbewegung; Niemand hat den Stoss „erklärt“. Wie könnten wir auch erklären! Wir operiren mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen —, wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde! Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben. Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie, — in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolirte Puncte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschliessen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es giebt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Secunde der Plötzlichkeit, die uns entgehen. Ein Intellect, der Ursache und Wirkung als continuum, nicht nach unserer Art als willkürliches Zertheilt- und Zerstücktsein, sähe, der den Fluss des Geschehens sähe, — würde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen.
113.
Zur Lehre von den Giften. — Es gehört so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken entstehe: und alle diese nöthigen Kräfte haben einzeln erfunden, geübt, gepflegt werden müssen! In ihrer Vereinzelung haben sie aber sehr häufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschränken und in Zucht halten: — sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb. Viele Hekatomben von Menschen sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese Triebe lernten, ihr Nebeneinander zu begreifen und sich mit einander als Functionen Einer organisirenden Gewalt in Einem Menschen zu fühlen! Und wie ferne sind wir noch davon, dass zum wissenschaftlichen Denken sich auch noch die künstlerischen Kräfte und die practische Weisheit des Lebens hinzufinden, dass ein höheres organisches System sich bildet, in Bezug auf welches der Gelehrte, der Arzt, der Künstler und der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese kennen, als dürftige Alterthümer erscheinen müssten!
114.
Umfang des Moralischen. — Wir construiren ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hülfe aller alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je nach dem Grade unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung.
115.
Die vier Irrthümer. — Der Mensch ist durch seine Irrthümer erzogen worden: er sah sich erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur, viertens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie eine Zeit lang als ewig und unbedingt, sodass bald dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schätzung veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrthümer weg, so hat man auch Humanität, Menschlichkeit und „Menschenwürde“ hinweggerechnet.
116.
Heerden-Instinct. — Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschätzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen und Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Heerde: Das, was ihr am ersten frommt — und am zweiten und dritten —, das ist auch der oberste Maassstab für den Werth aller Einzelnen. Mit der Moral wird der Einzelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben. Da die Bedingungen der Erhaltung einer Gemeinde sehr verschieden von denen einer anderen Gemeinde gewesen sind, so gab es sehr verschiedene Moralen; und in Hinsicht auf noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen der Heerden und Gemeinden, Staaten und Gesellschaften kann man prophezeien, dass es noch sehr abweichende Moralen geben wird. Moralität ist Heerden-Instinct im Einzelnen.
117.
Heerden-Gewissensbiss. — In den längsten und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz anderen Gewissensbiss als heut zu Tage. Heute fühlt man sich nur verantwortlich für Das, was man will und thut, und hat in sich selber seinen Stolz: alle unsere Rechtslehrer gehen von diesem Selbst- und Lustgefühle des Einzelnen aus, wie als ob hier von jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die längste Zeit der Menschheit hindurch gab es nichts Fürchterlicheres, als sich einzeln zu fühlen. Allein sein, einzeln empfinden, weder gehorchen noch herrschen, ein Individuum bedeuten — das war damals keine Lust, sondern eine Strafe; man wurde verurtheilt „zum Individuum“. Gedankenfreiheit galt als das Unbehagen selber. Während wir Gesetz und Einordnung als Zwang und Einbusse empfinden, empfand man ehedem den Egoismus als eine peinliche Sache, als eine eigentliche Noth. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maass und Gewicht schätzen — das gieng damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu würde als Wahnsinn empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein war jedes Elend und jede Furcht verknüpft. Damals hatte der „freie Wille“ das böse Gewissen in seiner nächsten Nachbarschaft: und je unfreier man handelte, je mehr der Heerden-Instinct und nicht der persönliche Sinn aus der Handlung sprach, um so moralischer schätzte man sich. Alles, was der Heerde Schaden that, sei es, dass der Einzelne es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte damals dem Einzelnen Gewissensbisse — und seinem Nachbar noch dazu, ja der ganzen Heerde! — Darin haben wir am allermeisten umgelernt.
118.
Wohlwollen. — Ist es tugendhaft, wenn eine Zelle sich in die Function einer stärkeren Zelle verwandelt? Sie muss es. Und ist es böse, wenn die stärkere jene sich assimilirt? Sie muss es ebenfalls; so ist es für sie nothwendig, denn sie strebt nach überreichlichem Ersatz und will sich regeneriren. Demnach hat man im Wohlwollen zu unterscheiden: den Aneignungstrieb und den Unterwerfungstrieb, je nachdem der Stärkere oder der Schwächere Wohlwollen empfindet. Freude und Begehren sind bei dem Stärkeren, der Etwas zu seiner Function umbilden will, beisammen: Freude und Begehrtwerdenwollen bei dem Schwächeren, der Function werden möchte. — Mitleid ist wesentlich das Erstere, eine angenehme Regung des Aneignungstriebes, beim Anblick des Schwächeren: wobei noch zu bedenken ist, dass „stark“ und „schwach“ relative Begriffe sind.
119.
Kein Altruismus! — Ich sehe an vielen Menschen eine überschüssige Kraft und Lust, Function sein zu wollen; sie drängen sich dorthin und haben die feinste Witterung für alle jene Stellen, wo gerade sie Function sein können. Dahin gehören jene Frauen, die sich in die Function eines Mannes verwandeln, welche an ihm gerade schwach entwickelt ist, und dergestalt zu seinem Geldbeutel oder zu seiner Politik oder zu seiner Geselligkeit werden. Solche Wesen erhalten sich selber am besten, wenn sie sich in einen fremden Organismus einfügen; gelingt es ihnen nicht, so werden sie ärgerlich, gereizt und fressen sich selber auf.
120.
Gesundheit der Seele. — Die beliebte medicinische Moralformel (deren Urheber Ariston von Chios ist): „Tugend ist die Gesundheit der Seele“ — müsste wenigstens, um brauchbar zu sein, dahin abgeändert werden: „deine Tugend ist die Gesundheit deiner Seele“. Denn eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definiren, sind kläglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit giebt es unzählige Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem Einzelnen und Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu erheben, je mehr man das Dogma von der „Gleichheit der Menschen“ verlernt, um so mehr muss auch der Begriff einer Normal-Gesundheit, nebst Normal-Diät, Normal-Verlauf der Erkrankung unsern Medicinern abhanden kommen. Und dann erst dürfte es an der Zeit sein, über Gesundheit und Krankheit der Seele nachzudenken und die eigenthümliche Tugend eines Jeden in deren Gesundheit zu setzen: welche freilich bei dem Einen so aussehen könnte wie der Gegensatz der Gesundheit bei einem Anderen. Zuletzt bliebe noch die grosse Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren könnten, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss der kranken Seele so gut bedürfe als der gesunden: kurz, ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feigheit und vielleicht ein Stück feinster Barbarei und Rückständigkeit sei.
121.
Das Leben kein Argument. — Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können — mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.
122.
Die moralische Skepsis im Christenthum. — Auch das Christenthum hat einen grossen Beitrag zur Aufklärung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit: es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine „Tugenden“: es liess für immer jene grossen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an denen das Alterthum nicht arm war, jene populären Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel Seneca’s und Epiktet’s, lesen, so fühlen wir eine kurzweilige Ueberlegenheit und sind voller geheimer Einblicke und Ueberblicke, es ist uns dabei zu Muthe, als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine junge schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete: wir kennen Das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle religiösen Zustände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, dass wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bücher das selbe Gefühl der feinen Ueberlegenheit und Einsicht haben: — wir kennen auch die religiösen Gefühle besser! Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus: — retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens für die Erkenntniss!
123.
Die Erkenntniss mehr, als ein Mittel. — Auch ohne diese neue Leidenschaft — ich meine die Leidenschaft der Erkenntniss — würde die Wissenschaft gefördert werden: die Wissenschaft ist ohne sie bisher gewachsen und gross geworden. Der gute Glaube an die Wissenschaft, das ihr günstige Vorurtheil, von dem unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die Kirche), ruht im Grunde darauf, dass jener unbedingte Hang und Drang sich so selten in ihr offenbart hat, und dass Wissenschaft eben nicht als Leidenschaft, sondern als Zustand und „Ethos“ gilt. Ja, es genügt oft schon amour-plaisir der Erkenntniss (Neugierde), es genügt amour-vanité, Gewöhnung an sie, mit der Hinterabsicht auf Ehre und Brod, es genügt selbst für Viele, dass sie mit einem Ueberschuss von Musse Nichts anzufangen wissen als lesen, sammeln, ordnen, beobachten, weiter erzählen: ihr „wissenschaftlicher Trieb“ ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der Zehnte hat einmal (im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissenschaft gesungen: er bezeichnet sie als den schönsten Schmuck und den grössten Stolz unseres Lebens, als eine edle Beschäftigung in Glück und Unglück; „ohne sie, sagt er endlich, wäre alles menschliche Unternehmen ohne festen Halt, — auch mit ihr ist es ja noch veränderlich und unsicher genug!“ Aber dieser leidlich skeptische Papst verschweigt, wie alle anderen kirchlichen Lobredner der Wissenschaft, sein letztes Urtheil über sie. Mag man nun aus seinen Worten heraushören, was für einen solchen Freund der Kunst merkwürdig genug ist, dass er die Wissenschaft über die Kunst stellt; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, wenn er hier nicht von dem redet, was auch er hoch über alle Wissenschaft stellt: von der „geoffenbarten Wahrheit“ und von dem „ewigen Heil der Seele“, — was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, Sicherung des Lebens! „Die Wissenschaft ist Etwas von zweitem Range, nichts Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der Passion“, — diess Urtheil blieb in der Seele Leo’s zurück: das eigentlich christliche Urtheil über die Wissenschaft! Im Alterthum war ihre Würde und Anerkennung dadurch verringert, dass selbst unter ihren eifrigsten Jüngern das Streben nach der Tugend voranstand, und dass man der Erkenntniss schon ihr höchstes Lob gegeben zu haben glaubte, wenn man sie als das beste Mittel der Tugend feierte. Es ist etwas Neues in der Geschichte, dass die Erkenntniss mehr sein will, als ein Mittel.
124.
Im Horizont des Unendlichen. — Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, — mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, — und es giebt kein „Land“ mehr!
125.
Der tolle Mensch. — Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ — Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? — so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? — auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, — wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, — und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ — Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, — es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, — und doch haben sie dieselbe gethan!“ — Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ —
126.
Mystische Erklärungen. — Die mystischen Erklärungen gelten für tief; die Wahrheit ist, dass sie noch nicht einmal oberflächlich sind.
127.
Nachwirkung der ältesten Religiosität. — Jeder Gedankenlose meint, der Wille sei das allein Wirkende; Wollen sei etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes, Unableitbares, An-sich-Verständliches. Er ist überzeugt, wenn er Etwas thut, zum Beispiel einen Schlag ausführt, er sei es, der da schlage, und er habe geschlagen, weil er schlagen wollte. Er merkt gar Nichts von einem Problem daran, sondern das Gefühl des Willens genügt ihm, nicht nur zur Annahme von Ursache und Wirkung, sondern auch zum Glauben, ihr Verhältniss zu verstehen. Von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgethan werden muss, damit es zu dem Schlage komme, ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun, weiss er Nichts. Der Wille ist ihm eine magisch wirkende Kraft: der Glaube an den Willen, als an die Ursache von Wirkungen, ist der Glaube an magisch wirkende Kräfte. Nun hat urspünglich der Mensch überall, wo er ein Geschehen sah, einen Willen als Ursache und persönlich wollende Wesen im Hintergrunde wirkend geglaubt, — der Begriff der Mechanik lag ihm ganz ferne. Weil aber der Mensch ungeheure Zeiten lang nur an Personen geglaubt hat (und nicht an Stoffe, Kräfte, Sachen und so weiter), ist ihm der Glaube an Ursache und Wirkung zum Grundglauben geworden, den er überall, wo Etwas geschieht, verwendet, — auch jetzt noch instinctiv und als ein Stück Atavismus ältester Abkunft. Die Sätze „keine Wirkung ohne Ursache“, „jede Wirkung wieder Ursache“ erscheinen als Verallgemeinerungen viel engerer Sätze: „wo gewirkt wird, da ist gewollt worden“, „es kann nur auf wollende Wesen gewirkt werden“, „es giebt nie ein reines, folgenloses Erleiden einer Wirkung, sondern alles Erleiden ist eine Erregung des Willens“ (zur That, Abwehr, Rache, Vergeltung), — aber in den Urzeiten der Menschheit waren diese und jene Sätze identisch, die ersten nicht Verallgemeinerungen der zweiten, sondern die zweiten Erläuterungen der ersten. — Schopenhauer, mit seiner Annahme, dass Alles, was da sei, nur etwas Wollendes sei, hat eine uralte Mythologie auf den Thron gehoben; er scheint nie eine Analyse des Willens versucht zu haben, weil er an die Einfachheit und Unmittelbarkeit alles Wollens glaubte, gleich Jedermann: — während Wollen nur ein so gut eingespielter Mechanismus ist, dass er dem beobachtenden Auge fast entläuft. Ihm gegenüber stelle ich diese Sätze auf: erstens, damit Wille entstehe, ist eine Vorstellung von Lust und Unlust nöthig. Zweitens: dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust empfunden werde, das ist die Sache des interpretirenden Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet; und ein und derselbe Reiz kann als Lust oder Unlust interpretirt werden. Drittens: nur bei den intellectuellen Wesen giebt es Lust, Unlust und Wille; die ungeheure Mehrzahl der Organismen hat Nichts davon.
128.
Der Werth des Gebetes. — Das Gebet ist für solche Menschen erfunden, welche eigentlich nie von sich aus Gedanken haben und denen eine Erhebung der Seele unbekannt ist oder unbemerkt verläuft: was sollen Diese an heiligen Stätten und in allen wichtigen Lagen des Lebens, welche Ruhe und eine Art Würde erfordern? Damit sie wenigstens nicht stören, hat die Weisheit aller Religionsstifter, der kleinen wie der grossen, ihnen die Formel des Gebetes anbefohlen, als eine lange mechanische Arbeit der Lippen, verbunden mit Anstrengung des Gedächtnisses und mit einer gleichen festgesetzten Haltung von Händen und Füssen und Augen! Da mögen sie nun gleich den Tibetanern ihr „om mane padme hum“ unzählige Male wiederkäuen, oder, wie in Benares, den Namen des Gottes Ram-Ram-Ram (und so weiter mit oder ohne Grazie) an den Fingern abzählen: oder den Wischnu mit seinen tausend, den Allah mit seinen neunundneunzig Anrufnamen ehren: oder sie mögen sich der Gebetmühlen und der Rosenkränze bedienen, — die Hauptsache ist, dass sie mit dieser Arbeit für eine Zeit festgemacht sind und einen erträglichen Anblick gewähren: ihre Art Gebet ist zum Vortheil der Frommen erfunden, welche Gedanken und Erhebungen von sich aus kennen. Und selbst Diese haben ihre müden Stunden, wo ihnen eine Reihe ehrwürdiger Worte und Klänge und eine fromme Mechanik wohlthut. Aber angenommen, dass diese seltenen Menschen — in jeder Religion ist der religiöse Mensch eine Ausnahme — sich zu helfen wissen: jene Armen im Geiste wissen sich nicht zu helfen, und ihnen das Gebets-Geklapper verbieten heisst ihnen ihre Religion nehmen: wie es der Protestantismus mehr und mehr an den Tag bringt. Die Religion will von Solchen eben nicht mehr, als dass sie Ruhe halten, mit Augen, Händen, Beinen und Organen aller Art: dadurch werden sie zeitweilig verschönert und — menschenähnlicher!
129.
Die Bedingungen Gottes. — „Gott selber kann nicht ohne weise Menschen bestehen“ — hat Luther gesagt und mit gutem Rechte; aber „Gott kann noch weniger ohne unweise Menschen bestehen“ — das hat der gute Luther nicht gesagt!
130.
Ein gefährlicher Entschluss. — Der christliche Entschluss, die Welt hässlich und schlecht zu finden, hat die Welt hässlich und schlecht gemacht.
131.
Christenthum und Selbstmord. — Das Christenthum hat das zur Zeit seiner Entstehung ungeheure Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht gemacht: es liess nur zwei Formen des Selbstmordes übrig, umkleidete sie mit der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen und verbot alle anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die langsame Selbstentleibung des Asketen waren erlaubt.
132.
Gegen das Christenthum. — Jetzt entscheidet unser Geschmack gegen das Christenthum, nicht mehr unsere Gründe.
133.
Grundsatz. — Eine unvermeidliche Hypothese, auf welche die Menschheit immer wieder verfallen muss, ist auf die Dauer doch mächtiger, als der bestgeglaubte Glaube an etwas Unwahres (gleich dem christlichen Glauben). Auf die Dauer: das heisst hier auf hunderttausend Jahre hin.
134.
Die Pessimisten als Opfer. — Wo eine tiefe Unlust am Dasein überhand nimmt, kommen die Nachwirkungen eines grossen Diätfehlers, dessen sich ein Volk lange schuldig gemacht hat, an’s Licht. So ist die Verbreitung des Buddhismus (nicht seine Entstehung) zu einem guten Theile abhängig von der übermässigen und fast ausschliesslichen Reiskost der Inder und der dadurch bedingten allgemeinen Erschlaffung. Vielleicht ist die europäische Unzufriedenheit der neuen Zeit daraufhin anzusehen, dass unsere Vorwelt, das ganze Mittelalter, Dank den Einwirkungen der germanischen Neigungen auf Europa, dem Trunk ergeben war: Mittelalter, das heisst die Alkoholvergiftung Europa’s. — Die deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Wintersiechthum, eingerechnet die Wirkungen der Kellerluft und des Ofengiftes in deutschen Wohnräumen.
135.
Herkunft der Sünde. — Sünde, so wie sie jetzt überall empfunden wird, wo das Christenthum herrscht oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der That das Christenthum darauf aus, die ganze Welt zu „verjüdeln“. Bis zu welchem Grade ihm diess in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem Grade von Fremdheit, den das griechische Alterthum — eine Welt ohne Sündengefühle — immer noch für unsere Empfindung hat, trotz allem guten Willen zur Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete Einzelne nicht haben fehlen lassen. „Nur wenn du bereuest, ist Gott dir gnädig“ — das ist einem Griechen ein Gelächter und ein Aergerniss: er würde sagen „so mögen Sclaven empfinden“. Hier ist ein Mächtiger, Uebermächtiger und doch Rachelustiger vorausgesetzt: seine Macht ist so gross, dass ihm ein Schaden überhaupt nicht zugefügt werden kann, ausser in dem Puncte der Ehre. Jede Sünde ist eine Respects-Verletzung, ein crimen laesae majestatis divinae — und Nichts weiter! Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen — das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft: Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit fasst und würgt — das lässt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert: Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit! — wem er seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde. Gott und Menschheit sind hier so getrennt, so entgegengesetzt gedacht, dass im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt werden kann, — jede That soll nur auf ihre übernatürlichen Folgen hin angesehen werden: nicht auf ihre natürlichen: so will es das jüdische Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist. Den Griechen dagegen lag der Gedanke näher, dass auch der Frevel Würde haben könne — selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Abschlachtung von Vieh als Aeusserung eines wahnsinnigen Neides, wie bei Ajax: sie haben in ihrem Bedürfniss, dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben, die Tragödie erfunden, — eine Kunst und eine Lust, die dem Juden, trotz aller seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabenen, im tiefsten Wesen fremd geblieben ist.
136.
Das auserwählte Volk. — Die Juden, die sich als das auserwählte Volk unter den Völkern fühlen, und zwar weil sie das moralische Genie unter den Völkern sind (vermöge der Fähigkeit, dass sie den Menschen in sich tiefer verachtet haben, als irgend ein Volk) — die Juden haben an ihrem göttlichen Monarchen und Heiligen einen ähnlichen Genuss wie der war, welchen der französische Adel an Ludwig dem Vierzehnten hatte. Dieser Adel hatte sich alle seine Macht und Selbstherrlichkeit nehmen lassen und war verächtlich geworden: um diess nicht zu fühlen, um diess vergessen zu können, bedurfte es eines königlichen Glanzes, einer königlichen Autorität und Machtfülle ohne Gleichen, zu der nur dem Adel der Zugang offen stand. Indem man gemäss diesem Vorrecht sich zur Höhe des Hofes erhob und von da aus blickend Alles unter sich, Alles verächtlich sah, kam man über alle Reizbarkeit des Gewissens hinaus. So thürmte man absichtlich den Thurm der königlichen Macht immer mehr in die Wolken hinein und setzte die letzten Bausteine der eigenen Macht daran.
137.
Im Gleichniss gesprochen. — Ein Jesus Christus war nur in einer jüdischen Landschaft möglich — ich meine in einer solchen, über der fortwährend die düstere und erhabene Gewitterwolke des zürnenden Jehovah hieng. Hier allein wurde das seltene plötzliche Hindurchleuchten eines einzelnen Sonnenstrahls durch die grauenhafte allgemeine und andauernde Tag-Nacht wie ein Wunder der „Liebe“ empfunden, als der Strahl der unverdientesten „Gnade“. Hier allein konnte Christus seinen Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, auf der Gott zu den Menschen hinabstieg; überall sonst galt das helle Wetter und die Sonne zu sehr als Regel und Alltäglichkeit.
138.
Der Irrthum Christi. — Der Stifter des Christenthums meinte, an Nichts litten die Menschen so sehr, als an ihren Sünden: — es war sein Irrthum, der Irrthum Dessen, der sich ohne Sünde fühlte, dem es hierin an Erfahrung gebrach! So füllte sich seine Seele mit jenem wundervollen phantastischen Erbarmen, das einer Noth galt, welche selbst bei seinem Volke, dem Erfinder der Sünde, selten eine grosse Noth war! — Aber die Christen haben es verstanden, ihrem Meister nachträglich Recht zu schaffen und seinen Irrthum zur „Wahrheit“ zu heiligen.
139.
Farbe der Leidenschaften. — Solche Naturen, wie die des Apostel Paulus, haben für die Leidenschaften einen bösen Blick; sie lernen von ihnen nur das Schmutzige, Entstellende und Herzbrechende kennen, — ihr idealer Drang geht daher auf Vernichtung der Leidenschaften aus: im Göttlichen sehen sie die völlige Reinheit davon. Ganz anders, als Paulus und die Juden, haben die Griechen ihren idealen Drang gerade auf die Leidenschaften gewendet und diese geliebt, gehoben, vergoldet und vergöttlicht; offenbar fühlten sie sich in der Leidenschaft nicht nur glücklicher, sondern auch reiner und göttlicher, als sonst. — Und nun die Christen? Wollten sie hierin zu Juden werden? Sind sie es vielleicht geworden?
140.
Zu jüdisch. — Wenn Gott ein Gegenstand der Liebe werden wollte, so hätte er sich zuerst des Richtens und der Gerechtigkeit begeben müssen: — ein Richter, und selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. Der Stifter des Christenthums empfand hierin nicht fein genug, — als Jude.
141.
Zu orientalisch. — Wie? Ein Gott, der die Menschen liebt, vorausgesetzt, dass sie an ihn glauben, und der fürchterliche Blicke und Drohungen gegen Den schleudert, der nicht an diese Liebe glaubt! Wie? eine verclausulirte Liebe als die Empfindung eines allmächtigen Gottes! Eine Liebe, die nicht einmal über das Gefühl der Ehre und der gereizten Rachsucht Herr geworden ist! Wie orientalisch ist das Alles! „Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?“ ist schon eine ausreichende Kritik des ganzen Christenthums.
142.
Räucherwerk. — Buddha sagt: „schmeichle deinem Wohlthäter nicht!“ Man spreche diesen Spruch nach in einer christlichen Kirche: — er reinigt sofort die Luft von allem Christlichen.
143.
Grösster Nutzen des Polytheismus. — Dass der Einzelne sich sein eigenes Ideal aufstelle und aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ableite — das galt wohl bisher als die ungeheuerlichste aller menschlichen Verirrungen und als die Abgötterei an sich; in der That haben die Wenigen, die diess wagten, immer vor sich selber eine Apologie nöthig gehabt, und diese lautete gewöhnlich: „nicht ich! nicht ich! sondern ein Gott durch mich!“ Die wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen — der Polytheismus — war es, in der dieser Trieb sich entladen durfte, in der er sich reinigte, vervollkommnete, veredelte: denn ursprünglich war es ein gemeiner und unansehnlicher Trieb, verwandt dem Eigensinn, dem Ungehorsame und dem Neide. Diesem Triebe zum eigenen Ideale feind sein: das war ehemals das Gesetz jeder Sittlichkeit. Da gab es nur Eine Norm: „der Mensch“ — und jedes Volk glaubte diese Eine und letzte Norm zu haben. Aber über sich und ausser sich, in einer fernen Ueberwelt, durfte man eine Mehrzahl von Normen sehen: der eine Gott war nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes! Hier erlaubte man sich zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen. Die Erfindung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Centauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn. Der Monotheismus dagegen, diese starre Consequenz der Lehre von Einem Normalmenschen — also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter giebt — war vielleicht die grösste Gefahr der bisherigen Menschheit: da drohte ihr jener vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, die meisten anderen Thiergattungen schon längst erreicht haben; als welche alle an Ein Normalthier und Ideal in ihrer Gattung glauben und die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt haben. Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: sodass es für den Menschen allein unter allen Thieren keine ewigen Horizonte und Perspectiven giebt.
144.
Religionskriege. — Der grösste Fortschritt der Massen war bis jetzt der Religionskrieg: denn er beweist, dass die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehrfurcht zu behandeln. Religionskriege entstehen erst, wenn durch die feineren Streitigkeiten der Secten die allgemeine Vernunft verfeinert ist: sodass selbst der Pöbel spitzfindig wird und Kleinigkeiten wichtig nimmt, ja es für möglich hält, dass das „ewige Heil der Seele“ an den kleinen Unterschieden der Begriffe hängt.
145.
Gefahr der Vegetarianer. — Der vorwiegende ungeheure Reisgenuss treibt zur Anwendung von Opium und narkotischen Dingen, in gleicher Weise wie der vorwiegende ungeheure Kartoffelgenuss zu Branntwein treibt —: er treibt aber, in feinerer Nachwirkung, auch zu Denk- und Gefühlsweisen, die narkotisch wirken. Damit stimmt zusammen, dass die Förderer narkotischer Denk- und Gefühlsweisen, wie jene indischen Lehrer, gerade eine Diät preisen und zum Gesetz der Masse machen möchten, welche rein vegetabilisch ist: sie wollen so das Bedürfniss hervorrufen und mehren, welches sie zu befriedigen im Stande sind.
146.
Deutsche Hoffnungen. — Vergessen wir doch nicht, dass die Völkernamen gewöhnlich Schimpfnamen sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen nach „die Hunde“: so wurden sie von den Chinesen getauft. Die „Deutschen“: das bedeutet urspünglich „die Heiden“: so nannten die Gothen nach ihrer Bekehrung die grosse Masse ihrer ungetauften Stammverwandten, nach Anleitung ihrer Uebersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen „die Völker“ bedeutet: man sehe Ulfilas. — Es wäre immer noch möglich, dass die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen machten, indem sie das erste unchristliche Volk Europa’s würden: wozu in hohem Maasse angelegt zu sein Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete. So käme das Werk Luther’s zur Vollendung, der sie gelehrt hat, unrömisch zu sein und zu sprechen: „hier stehe ich! Ich kann nicht anders!“ —
147.
Frage und Antwort. — Was nehmen jetzt wilde Völkerschaften zuerst von den Europäern an? Branntwein und Christenthum, die europäischen Narcotica. — Und woran gehen sie am schnellsten zu Grunde? — An den europäischen Narcoticis.
148.
Wo die Reformationen entstehen. — Zur Zeit der grossen Kirchen-Verderbniss war in Deutschland die Kirche am wenigsten verdorben: desshalb entstand hier die Reformation, als das Zeichen, dass schon die Anfänge der Verderbniss unerträglich empfunden wurden. Verhältnissmässig war nämlich kein Volk jemals christlicher, als die Deutschen zur Zeit Luther’s: ihre christliche Cultur war eben bereit, zu einer hundertfältigen Pracht der Blüthe auszuschlagen, — es fehlte nur noch Eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, der Allem ein Ende machte.
149.
Misslingen der Reformationen. — Es spricht für die höhere Cultur der Griechen selbst in ziemlich frühen Zeiten, dass mehrere Male die Versuche, neue griechische Religionen zu gründen, gescheitert sind; es spricht dafür, dass es schon früh eine Menge verschiedenartiger Individuen in Griechenland gegeben haben muss, deren verschiedenartige Noth nicht mit einem einzigen Recepte des Glaubens und Hoffens abzuthun war. Pythagoras und Plato, vielleicht auch Empedokles, und bereits viel früher die orphischen Schwarmgeister, waren darauf aus, neue Religionen zu gründen; und die beiden Erstgenannten hatten so ächte Religionsstifter-Seelen und -Talente, dass man sich über ihr Misslingen nicht genug verwundern kann: sie brachten es aber nur zu Secten. Jedes Mal, wo die Reformation eines ganzen Volkes misslingt und nur Secten ihr Haupt emporheben, darf man schliessen, dass das Volk schon sehr vielartig in sich ist und sich von den groben Heerdeninstincten und der Sittlichkeit der Sitte loszulösen beginnt: ein bedeutungsvoller Schwebezustand, den man als Sittenverfall und Corruption zu verunglimpfen gewohnt ist: während er das Reifwerden des Eies und das nahe Zerbrechen der Eierschaale ankündigt. Dass Luther’s Reformation im Norden gelang, ist ein Zeichen dafür, dass der Norden gegen den Süden Europa’s zurückgeblieben war und noch ziemlich einartige und einfarbige Bedürfnisse kannte; und es hätte überhaupt keine Verchristlichung Europa’s gegeben, wenn nicht die Cultur der alten Welt des Südens allmählich durch eine übermässige Hinzumischung von germanischem Barbarenblut barbarisirt und ihres Cultur-Uebergewichtes verlustig gegangen wäre. Je allgemeiner und unbedingter ein Einzelner oder der Gedanke eines Einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und um so niedriger muss die Masse sein, auf die da gewirkt wird; während Gegenbestrebungen innere Gegenbedürfnisse verrathen, welche auch sich befriedigen und durchsetzen wollen. Umgekehrt darf man immer auf eine wirkliche Höhe der Cultur schliessen, wenn mächtige und herrschsüchtige Naturen es nur zu einer geringen und sectirerischen Wirkung bringen: diess gilt auch für die einzelnen Künste und die Gebiete der Erkenntniss. Wo geherrscht wird, da giebt es Massen: wo Massen sind, da giebt es ein Bedürfniss nach Sclaverei. Wo es Sclaverei giebt, da sind der Individuen nur wenige, und diese haben die Heerdeninstincte und das Gewissen gegen sich.
150.
Zur Kritik der Heiligen. — Muss man denn, um eine Tugend zu haben, sie gerade in ihrer brutalsten Gestalt haben wollen? — wie es die christlichen Heiligen wollten und nöthig hatten; als welche das Leben nur mit dem Gedanken ertrugen, dass beim Anblick ihrer Tugend einen Jeden die Verachtung seiner selber anwandelte. Eine Tugend aber mit solcher Wirkung nenne ich brutal.
151.
Vom Ursprunge der Religion. — Das metaphysische Bedürfniss ist nicht der Ursprung der Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschössling derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung einer „anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt“ gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung des religiösen Wahns eine unbehagliche Leere und Entbehrung, — und nun wächst aus diesem Gefühle wieder eine „andere Welt“ heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer „anderen Welt“ überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürfniss, sondern ein Irrthum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellects.
152.
Die grösste Veränderung. — Die Beleuchtung und die Farben aller Dinge haben sich verändert! Wir verstehen nicht mehr ganz, wie die alten Menschen das Nächste und Häufigste empfanden, — zum Beispiel den Tag und das Wachen: dadurch, dass die Alten an Träume glaubten, hatte das wache Leben andere Lichter. Und ebenso das ganze Leben, mit der Zurückstrahlung des Todes und seiner Bedeutung: unser „Tod“ ist ein ganz anderer Tod. Alle Erlebnisse leuchteten anders, denn ein Gott glänzte aus ihnen; alle Entschlüsse und Aussichten auf die ferne Zukunft ebenfalls: denn man hatte Orakel und geheime Winke und glaubte an die Vorhersagung. „Wahrheit“ wurde anders empfunden, denn der Wahnsinnige konnte ehemals als ihr Mundstück gelten, — was uns schaudern oder lachen macht. Jedes Unrecht wirkte anders auf das Gefühl: denn man fürchtete eine göttliche Vergeltung und nicht nur eine bürgerliche Strafe und Entehrung. Was war die Freude in der Zeit, als man an die Teufel und die Versucher glaubte! Was die Leidenschaft, wenn man die Dämonen in der Nähe lauern sah! Was die Philosophie, wenn der Zweifel als Versündigung der gefährlichsten Art gefühlt wurde, und zwar als ein Frevel an der ewigen Liebe, als Misstrauen gegen Alles, was gut, hoch, rein und erbarmend war! — Wir haben die Dinge neu gefärbt, wir malen immerfort an ihnen, — aber was vermögen wir einstweilen gegen die Farbenpracht jener alten Meisterin! — ich meine die alte Menschheit.
153.
Homo poeta. — „Ich selber, der ich höchst eigenhändig diese Tragödie der Tragödien gemacht habe, soweit sie fertig ist; ich, der ich den Knoten der Moral erst in’s Dasein hineinknüpfte und so fest zog, dass nur ein Gott ihn lösen kann, — so verlangt es ja Horaz! — ich selber habe jetzt im vierten Act alle Götter umgebracht, — aus Moralität! Was soll nun aus dem fünften werden! Woher noch die tragische Lösung nehmen! — Muss ich anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken?“
154.
Verschiedene Gefährlichkeit des Lebens. — Ihr wisst gar nicht, was ihr erlebt, ihr lauft wie betrunken durch’s Leben und fallt ab und zu eine Treppe hinab. Aber, Dank eurer Trunkenheit, brecht ihr doch nicht dabei die Glieder: eure Muskeln sind zu matt und euer Kopf zu dunkel, als dass ihr die Steine dieser Treppe so hart fändet, wie wir Anderen! Für uns ist das Leben eine grössere Gefahr: wir sind von Glas — wehe, wenn wir uns stossen! Und Alles ist verloren, wenn wir fallen!
155.
Was uns fehlt. — Wir lieben die grosse Natur und haben sie entdeckt: das kommt daher, dass in unserem Kopfe die grossen Menschen fehlen. Umgekehrt die Griechen: ihr Naturgefühl ist ein anderes, als das unsrige.
156.
Der Einflussreichste. — Dass ein Mensch seiner ganzen Zeit Widerstand leistet, sie am Thore aufhält und zur Rechenschaft zieht, das muss Einfluss üben! Ob er es will, ist gleichgültig; dass er es kann, ist die Sache.
157.
Mentiri. — Gieb Acht! — er sinnt nach: sofort wird er eine Lüge bereit haben. Diess ist eine Stufe der Cultur, auf der ganze Völker gestanden haben. Man erwäge doch, was die Römer mit mentiri ausdrückten!
158.
Unbequeme Eigenschaft. — Alle Dinge tief finden — das ist eine unbequeme Eigenschaft: sie macht, dass man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr findet, als man gewünscht hat.
159.
Jede Tugend hat ihre Zeit. — Wer jetzt unbeugsam ist, dem macht seine Redlichkeit oft Gewissensbisse: denn die Unbeugsamkeit ist die Tugend eines anderen Zeitalters, als die Redlichkeit.
160.
Im Verkehre mit Tugenden. — Man kann auch gegen eine Tugend würdelos und schmeichlerisch sein.
161.
An die Liebhaber der Zeit. — Der entlaufene Priester und der entlassene Sträfling machen fortwährend Gesichter: was sie wollen, ist ein Gesicht ohne Vergangenheit. — Habt ihr aber schon Menschen gesehen, welche wissen, dass die Zukunft in ihrem Gesichte sich spiegelt, und welche so höflich gegen euch, ihr Liebhaber der „Zeit“, sind, dass sie ein Gesicht ohne Zukunft machen? —
162.
Egoismus. — Egoismus ist das perspectivische Gesetz der Empfindung, nach dem das Nächste gross und schwer erscheint: während nach der Ferne zu alle Dinge an Grösse und Gewicht abnehmen.
163.
Nach einem grossen Siege. — Das Beste an einem grossen Siege ist, dass er dem Sieger die Furcht vor einer Niederlage nimmt. „Warum nicht auch einmal unterliegen? — sagt er sich: ich bin jetzt reich genug dazu“.
164.
Die Ruhesuchenden. — Ich erkenne die Geister, welche Ruhe suchen, an den vielen dunklen Gegenständen, welche sie um sich aufstellen: wer schlafen will, macht sein Zimmer dunkel oder kriecht in eine Höhle. — Ein Wink für Die, welche nicht wissen, was sie eigentlich am meisten suchen, und es wissen möchten!
165.
Vom Glücke der Entsagenden. — Wer sich Etwas gründlich und auf lange Zeit hin versagt, wird, bei einem zufälligen Wiederantreffen desselben, fast vermeinen, es entdeckt zu haben, — und welches Glück hat jeder Entdecker! Seien wir klüger, als die Schlangen, welche zu lange in der selben Sonne liegen.
166.
Immer in unserer Gesellschaft. — Alles, was meiner Art ist, in Natur und Geschichte, redet zu mir, lobt mich, treibt mich vorwärts, tröstet mich —: das Andere höre ich nicht oder vergesse es gleich. Wir sind stets nur in unserer Gesellschaft.
167.
Misanthropie und Liebe. — Man spricht nur dann davon, dass man der Menschen satt sei, wenn man sie nicht mehr verdauen kann und doch noch den Magen voll davon hat. Misanthropie ist die Folge einer allzubegehrlichen Menschenliebe und „Menschenfresserei“, — aber, wer hiess dich auch Menschen zu verschlucken wie Austern, mein Prinz Hamlet?
168.
Von einem Kranken. — „Es steht schlecht um ihn!“ — Woran fehlt es? — „Er leidet an der Begierde, gelobt zu werden, und findet keine Nahrung für sie.“ — Unbegreiflich! Alle Welt feiert ihn, und man trägt ihn nicht nur auf den Händen, sondern auch auf den Lippen! — „Ja, aber er hat ein schlechtes Gehör für das Lob. Lobt ihn ein Freund, so klingt es ihm, als ob dieser sich selber lobe; lobt ihn ein Feind, so klingt es ihm, als ob dieser dafür gelobt werden wolle; lobt ihn endlich einer der Uebrigen — es sind gar nicht so Viele übrig, so berühmt ist er! — so beleidigt es ihn, dass man ihn nicht zum Freund oder Feind haben wolle; er pflegt zu sagen: Was liegt mir an Einem, der gar noch gegen mich den Gerechten zu spielen vermag!“
169.
Offene Feinde. — Die Tapferkeit vor dem Feinde ist ein Ding für sich: damit kann man immer noch ein Feigling und ein unentschlossener Wirrkopf sein. So urtheilte Napoleon in Hinsicht auf den „tapfersten Menschen“, der ihm bekannt sei, Murat: — woraus sich ergiebt, dass offene Feinde für manche Menschen unentbehrlich sind, falls sie sich zu ihrer Tugend, ihrer Männlichkeit und Heiterkeit erheben sollen.
170.
Mit der Menge. — Er läuft bisher mit der Menge und ist ihr Lobredner: aber eines Tages wird er ihr Gegner sein! Denn er folgt ihr im Glauben, dass seine Faulheit dabei ihre Rechnung fände: er hat noch nicht erfahren, dass die Menge nicht faul genug für ihn ist! dass sie immer vorwärts drängt! dass sie Niemandem erlaubt, stehen zu bleiben! — Und er bleibt so gern stehen!
171.
Ruhm. — Wenn die Dankbarkeit Vieler gegen Einen alle Scham wegwirft, so entsteht der Ruhm.
172.
Der Geschmacks-Verderber. — A.: „Du bist ein Geschmacks-Verderber, — so sagt man überall!“
B.: „Sicherlich! Ich verderbe Jedermann den Geschmack an seiner Partei: — das verzeiht mir keine Partei.“
173.
Tief sein und tief scheinen. — Wer sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält Alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: sie ist so furchtsam und geht so ungern in’s Wasser.
174.
Abseits. — Der Parlamentarismus, das heisst die öffentliche Erlaubniss, zwischen fünf politischen Grundmeinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen Vielen ein, welche gerne selbständig und individuell scheinen und für ihre Meinungen kämpfen möchten. Zuletzt aber ist es gleichgültig, ob der Heerde Eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. — Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Heerde gegen sich.
175.
Von der Beredtsamkeit. — Wer besass bis jetzt die überzeugendste Beredtsamkeit? Der Trommelwirbel: und so lange die Könige diesen in der Gewalt haben, sind sie immer noch die besten Redner und Volksaufwiegler.
176.
Mitleiden. — Die armen regierenden Fürsten! Alle ihre Rechte verwandeln sich jetzt unversehens in Ansprüche, und all diese Ansprüche klingen bald wie Anmaassungen! Und wenn sie nur „Wir“ sagen oder „mein Volk“, so lächelt schon das alte boshafte Europa. Wahrhaftig, ein Oberceremonienmeister der modernen Welt würde wenig Ceremonien mit ihnen machen; vielleicht würde er decretiren: „les souverains rangent aux parvenus“.
177.
Zum „Erziehungswesen“. — In Deutschland fehlt dem höheren Menschen ein grosses Erziehungsmittel: das Gelächter höherer Menschen; diese lachen nicht in Deutschland.
178.
Zur moralischen Aufklärung. — Man muss den Deutschen ihren Mephistopheles ausreden: und ihren Faust dazu. Es sind zwei moralische Vorurtheile gegen den Werth der Erkenntniss.
179.
Gedanken. — Gedanken sind die Schatten unserer Empfindungen, — immer dunkler, leerer, einfacher, als diese.
180.
Die gute Zeit der freien Geister. — Die freien Geister nehmen sich auch vor der Wissenschaft noch ihre Freiheiten — und einstweilen giebt man sie ihnen auch, — so lange die Kirche noch steht! — In so fern haben sie jetzt ihre gute Zeit.
181.
Folgen und Vorangehen. — A.: „Von den Beiden wird der Eine immer folgen, der Andere immer vorangehen, wohin sie auch das Schicksal führt. Und doch steht der Erstere über dem Anderen, nach seiner Tugend und seinem Geiste!“ B.: „Und doch? Und doch? Das ist für die Anderen geredet; nicht für mich, nicht für uns! — Fit secundum regulam.“
182.
In der Einsamkeit. — Wenn man allein lebt, so spricht man nicht zu laut, man schreibt auch nicht zu laut: denn man fürchtet den hohlen Widerhall — die Kritik der Nymphe Echo. — Und alle Stimmen klingen anders in der Einsamkeit!
183.
Die Musik der besten Zukunft. — Der erste Musiker würde mir der sein, welcher nur die Traurigkeit des tiefsten Glückes kennte, und sonst keine Traurigkeit: einen solchen gab es bisher nicht.
184.
Justiz. — Lieber sich bestehlen lassen, als Vogelscheuchen um sich haben — das ist mein Geschmack. Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmackes — und nicht mehr!
185.
Arm. — Er ist heute arm: aber nicht weil man ihm Alles genommen, sondern weil er Alles weggeworfen hat: — was macht es ihm? Er ist daran gewöhnt, zu finden. — Die Armen sind es, welche seine freiwillige Armuth missverstehen.
186.
Schlechtes Gewissen. — Alles, was er jetzt thut, ist brav und ordentlich — und doch hat er ein schlechtes Gewissen dabei. Denn das Ausserordentliche ist seine Aufgabe.
187.
Das Beleidigende im Vortrage. — Dieser Künstler beleidigt mich durch die Art, wie er seine Einfälle, seine sehr guten Einfälle vorträgt: so breit und nachdrücklich, und mit so groben Kunstgriffen der Ueberredung, als ob er zum Pöbel spräche. Wir sind immer nach einiger Zeit, die wir seiner Kunst schenkten, wie „in schlechter Gesellschaft“.
188.
Arbeit. — Wie nah steht jetzt auch dem Müssigsten von uns die Arbeit und der Arbeiter! Die königliche Höflichkeit in dem Worte „wir Alle sind Arbeiter!“ wäre noch unter Ludwig dem Vierzehnten ein Cynismus und eine Indecenz gewesen.
189.
Der Denker. — Er ist ein Denker: das heisst, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind.
190.
Gegen die Lobenden. — A.: „Man wird nur von Seinesgleichen gelobt!“ B.: „Ja! Und wer dich lobt, sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!“
191.
Gegen manche Vertheidigung. — Die perfideste Art, einer Sache zu schaden, ist, sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen vertheidigen.
192.
Die Gutmüthigen. — Was unterscheidet jene Gutmüthigen, denen Wohlwollen aus dem Gesichte strahlt, von den anderen Menschen? Sie fühlen sich in Gegenwart einer neuen Person wohl und sind schnell in sie verliebt; sie wollen ihr dafür wohl, ihr erstes Urtheil ist „sie gefällt mir“. Bei ihnen folgt auf einander: Wunsch der Aneignung (sie machen sich wenig Scrupel über den Werth des Anderen), rasche Aneignung, Freude am Besitz und Handeln zu Gunsten des Besessenen.
193.
Kant’s Witz. — Kant wollte auf eine „alle Welt“ vor den Kopf stossende Art beweisen, dass „alle Welt“ Recht habe: — das war der heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zu Gunsten des Volks-Vorurtheils, aber für Gelehrte und nicht für das Volk.
194.
Der „Offenherzige“. — Jener Mensch handelt wahrscheinlich immer nach verschwiegenen Gründen: denn er trägt immer mittheilbare Gründe auf der Zunge und beinahe in der offnen Hand.
195.
Zum Lachen! — Seht hin! Seht hin! Er läuft von den Menschen weg —: diese aber folgen ihm nach, weil er vor ihnen herläuft, — so sehr sind sie Heerde!
196.
Grenze unseres Hörsinns. — Man hört nur die Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort zu finden.
197.
Darum Vorsicht! — Nichts theilen wir so gern an Andere mit, als das Siegel der Verschwiegenheit — sammt dem, was darunter ist.
198.
Verdruss des Stolzen. — Der Stolze hat selbst an Denen, welche ihn vorwärts bringen, seinen Verdruss: er blickt böse auf die Pferde seines Wagens.
199.
Freigebigkeit. — Freigebigkeit ist bei Reichen oft nur eine Art Schüchternheit.
200.
Lachen. — Lachen heisst: schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen.
201.
Im Beifall. — Im Beifall ist immer eine Art Lärm: selbst in dem Beifall, den wir uns selber zollen.
202.
Ein Verschwender. — Er hat noch nicht jene Armuth des Reichen, der seinen ganzen Schatz schon einmal überzählt hat, — er verschwendet seinen Geist mit der Unvernunft der Verschwenderin Natur.
203.
Hic niger est. — Er hat für gewöhnlich keinen Gedanken, — aber für die Ausnahme kommen ihm schlechte Gedanken.
204.
Die Bettler und die Höflichkeit. — „Man ist nicht unhöflich, wenn man mit einem Steine an die Thüre klopft, welcher der Klingelzug fehlt“ — so denken Bettler und Nothleidende aller Art; aber Niemand giebt ihnen Recht.
205.
Bedürfniss. — Das Bedürfniss gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.
206.
Beim Regen. — Es regnet, und ich gedenke der armen Leute, die sich jetzt zusammen drängen, mit ihrer vielen Sorge und ohne Uebung, diese zu verbergen, also Jeder bereit und guten Willens, dem Andern wehe zu thun und sich auch bei schlechtem Wetter eine erbärmliche Art von Wohlgefühl zu machen. — Das, nur das ist die Armuth der Armen!
207.
Der Neibold. — Das ist ein Neidbold, — dem muss man keine Kinder wünschen; er würde auf sie neidisch sein, weil er nicht mehr Kind sein kann.
208.
Grosser Mann! — Daraus, dass einer „ein grosser Mann“ ist, darf man noch nicht schliessen, dass er ein Mann ist; vielleicht ist es nur ein Knabe, oder ein Chamäleon aller Lebensalter, oder ein verhextes Weiblein.
209.
Eine Art, nach Gründen zu fragen. — Es giebt eine Art, uns nach unseren Gründen zu fragen, bei der wir nicht nur unsre besten Gründe vergessen, sondern auch einen Trotz und Widerwillen gegen Gründe überhaupt in uns erwachen fühlen: — eine sehr verdummende Art zu fragen und recht ein Kunstgriff tyrannischer Menschen!
210.
Maass im Fleisse. — Man muss den Fleiss seines Vaters nicht überbieten wollen — das macht krank.
211.
Geheime Feinde. — Einen geheimen Feind sich halten können — das ist ein Luxus, für den die Moralität selbst hochgesinnter Geister nicht reich genug zu sein pflegt.
212.
Sich nicht täuschen lassen. — Sein Geist hat schlechte Manieren, er ist hastig und stottert immer vor Ungeduld: so ahnt man kaum, in welcher langathmigen und breitbrüstigen Seele er zu Hause ist.
213.
Der Weg zum Glücke. — Ein Weiser fragte einen Narren, welches der Weg zum Glücke sei. Dieser antwortete ohne Verzug, wie Einer, der nach dem Wege zur nächsten Stadt gefragt wird: „Bewundere dich selbst und lebe auf der Gasse!“ „Halt, rief der Weise, du verlangst zu viel, es genügt schon sich selber zu bewundern!“ Der Narr entgegnete: „Aber wie kann man beständig bewundern, ohne beständig zu verachten?“
214.
Der Glaube macht selig. — Die Tugend giebt nur Denen Glück und eine Art Seligkeit, welche den guten Glauben an ihre Tugend haben: — nicht aber jenen feineren Seelen, deren Tugend im tiefen Misstrauen gegen sich und alle Tugend besteht. Zuletzt macht also auch hier „der Glaube selig!“ — und wohlgemerkt, nicht die Tugend!
215.
Ideal und Stoff. — Du hast da ein vornehmes Ideal vor Augen: aber bist du auch ein so vornehmer Stein, dass aus dir solch ein Götterbild gebildet werden dürfte? Und ohne diess — ist all deine Arbeit nicht eine barbarische Bildhauerei? Eine Lästerung deines Ideals?
216.
Gefahr in der Stimme. — Mit einer sehr lauten Stimme im Halse, ist man fast ausser Stande, feine Sachen zu denken.
217.
Ursache und Wirkung. — Vor der Wirkung glaubt man an andere Ursachen, als nach der Wirkung.
218.
Meine Antipathie. — Ich liebe die Menschen nicht, welche, um überhaupt Wirkung zu thun, zerplatzen müssen, gleich Bomben, und in deren Nähe man immer in Gefahr ist, plötzlich das Gehör — oder noch mehr zu verlieren.
219.
Zweck der Strafe. — Die Strafe hat den Zweck, Den zu bessern, welcher straft, — das ist die letzte Zuflucht für die Vertheidiger der Strafe.
220.
Opfer. — Ueber Opfer und Aufopferung denken die Opferthiere anders, als die Zuschauer: aber man hat sie von jeher nicht zu Worte kommen lassen.
221.
Schonung. — Väter und Söhne schonen sich viel mehr unter einander, als Mütter und Töchter.
222.
Dichter und Lügner. — Der Dichter sieht in dem Lügner seinen Milchbruder, dem er die Milch weggetrunken hat; so ist Jener elend geblieben und hat es nicht einmal bis zum guten Gewissen gebracht.
223.
Vicariat der Sinne. — „Man hat auch die Augen um zu hören — sagte ein alter Beichtvater, der taub wurde; und unter den Blinden ist Der König, wer die längsten Ohren hat.“
224.
Kritik der Thiere. — Ich fürchte, die Thiere betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat, — als das wahnwitzige Thier, als das lachende Thier, als das weinende Thier, als das unglückselige Thier.
225.
Die Natürlichen. — „Das Böse hat immer den grossen Effect für sich gehabt! Und die Natur ist böse! Seien wir also natürlich!“ — so schliessen im Geheimen die grossen Effecthascher der Menschheit, welche man gar zu oft unter die grossen Menschen gerechnet hat.
226.
Die Misstrauischen und der Stil. — Wir sagen die stärksten Dinge schlicht, vorausgesetzt, dass Menschen um uns sind, die an unsere Stärke glauben: — eine solche Umgebung erzieht zur „Einfachheit des Stils“. Die Misstrauischen reden emphatisch; die Misstrauischen machen emphatisch.
227.
Fehlschluss, Fehlschuss. — Er kann sich nicht beherrschen: und daraus schliesst jene Frau, es werde leicht sein, ihn zu beherrschen und wirft ihre Fangseile nach ihm aus; — die Arme, die in Kürze seine Sclavin sein wird.
228.
Gegen die Vermittelnden. — Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmässig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Aehnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.
229.
Trotz und Treue. — Er hält aus Trotz an einer Sache fest, die ihm durchsichtig geworden ist, — er nennt es aber „Treue“.
230.
Mangel an Schweigsamkeit. — Sein ganzes Wesen überredet nicht — das kommt daher, dass er nie eine gute Handlung, die er that, verschwiegen hat.
231.
Die „Gründlichen“. — Die Langsamen der Erkenntniss meinen, die Langsamkeit gehöre zur Erkenntniss.
232.
Träumen. — Man träumt gar nicht, oder interessant. — Man muss lernen, ebenso zu wachen: — gar nicht, oder interessant.
233.
Gefährlichster Gesichtspunct. — Was ich jetzt thue oder lasse, ist für alles Kommende so wichtig, als das grösste Ereigniss der Vergangenheit: in dieser ungeheuren Perspective der Wirkung sind alle Handlungen gleich gross und klein.
234.
Trostrede eines Musicanten. — „Dein Leben klingt den Menschen nicht in die Ohren: für sie lebst du ein stummes Leben, und alle Feinheit der Melodie, alle zarte Entschliessung im Folgen oder Vorangehen, bleibt ihnen verborgen. Es ist wahr: du kommst nicht auf breiter Strasse mit Regimentsmusik daher, — aber desshalb haben diese Guten doch kein Recht, zu sagen, es fehle deinem Lebenswandel an Musik. Wer Ohren hat, der höre.“
235.
Geist und Charakter. — Mancher erreicht seinen Gipfel als Charakter, aber sein Geist ist gerade dieser Höhe nicht angemessen — und Mancher umgekehrt.
236.
Um die Menge zu bewegen. — Muss nicht Der, welcher die Menge bewegen will, der Schauspieler seiner selber sein? Muss er nicht sich selber erst in’s Grotesk-Deutliche übersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser Vergröberung und Vereinfachung vortragen?
237.
Der Höfliche. — „Er ist so höflich!“ — Ja, er hat immer einen Kuchen für den Cerberus bei sich und ist so furchtsam, dass er Jedermann für den Cerberus hält, auch dich und mich, — das ist seine „Höflichkeit“.
238.
Neidlos. — Er ist ganz ohne Neid, aber es ist kein Verdienst dabei: denn er will ein Land erobern, das Niemand noch besessen und kaum Einer auch nur gesehen hat.
239.
Der Freudlose. — Ein einziger freudloser Mensch genügt schon, um einem ganzen Hausstande dauernden Missmuth und trüben Himmel zu machen; und nur durch ein Wunder geschieht es, dass dieser Eine fehlt! — Das Glück ist lange nicht eine so ansteckende Krankheit, — woher kommt das?
240.
Am Meere. — Ich würde mir kein Haus bauen (und es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein!). Müsste ich aber, so würde ich, gleich manchem Römer, es bis in’s Meer hineinbauen, — ich möchte schon mit diesem schönen Ungeheuer einige Heimlichkeiten gemeinsam haben.
241.
Werk und Künstler. — Dieser Künstler ist ehrgeizig und Nichts weiter: zuletzt ist sein Werk nur ein Vergrösserungsglas, welches er Jedermann anbietet, der nach ihm hinblickt.
242.
Suum cuique. — Wie gross auch die Habsucht meiner Erkenntniss ist: ich kann aus den Dingen nichts Anderes herausnehmen, als was mir schon gehört, — das Besitzthum Anderer bleibt in den Dingen zurück. Wie ist es möglich, dass ein Mensch Dieb oder Räuber sei!
243.
Ursprung von „Gut“ und „Schlecht“. — Eine Verbesserung erfindet nur Der, welcher zu fühlen weiss: „Diess ist nicht gut“.
244.
Gedanken und Worte. — Man kann auch seine Gedanken nicht ganz in Worten wiedergeben.
245.
Lob in der Wahl. — Der Künstler wählt seine Stoffe aus: das ist seine Art zu loben.
246.
Mathematik. — Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, so weit diess nur irgend möglich ist, nicht im Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntniss.
247.
Gewohnheit. — Alle Gewohnheit macht unsere Hand witziger und unseren Witz unbehender.
248.
Bücher. — Was ist an einem Buche gelegen, das uns nicht einmal über alle Bücher hinweg trägt?
249.
Der Seufzer des Erkennenden. — „Oh über meine Habsucht! In dieser Seele wohnt keine Selbstlosigkeit, — vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen wie durch seine Augen sehen und wie mit seinen Händen greifen möchte, — ein auch die ganze Vergangenheit noch zurückholendes Selbst, welches Nichts verlieren will, was ihm überhaupt gehören könnte! Oh über diese Flamme meiner Habsucht! Oh, dass ich in hundert Wesen wiedergeboren würde!“ — Wer diesen Seufzer nicht aus Erfahrung kennt, kennt auch die Leidenschaft des Erkennenden nicht.
250.
Schuld. — Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selber von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem nicht vorhanden. So steht es mit aller Schuld.
251.
Verkannte Leidende. — Die grossartigen Naturen leiden anders, als ihre Verehrer sich einbilden: sie leiden am härtesten durch die unedlen, kleinlichen Wallungen mancher bösen Augenblicke, kurz, durch ihren Zweifel an der eigenen Grossartigkeit, — nicht aber durch die Opfer und Martyrien, welche ihre Aufgabe von ihnen verlangt. So lange Prometheus Mitleid mit den Menschen hat und sich ihnen opfert, ist er glücklich und gross in sich; aber wenn er neidisch auf Zeus und die Huldigungen wird, welche Jenem die Sterblichen bringen, — da leidet er!
252.
Lieber schuldig. — „Lieber schuldig bleiben, als mit einer Münze zahlen, die nicht unser Bild trägt!“ — so will es unsere Souveränität.
253.
Immer zu Hause. — Eines Tages erreichen wir unser Ziel — und weisen nunmehr mit Stolz darauf hin, was für lange Reisen wir dazu gemacht haben. In Wahrheit merkten wir nicht, dass wir reisten. Wir kamen aber dadurch so weit, dass wir an jeder Stelle wähnten, zu Hause zu sein.
254.
Gegen die Verlegenheit. — Wer immer tief beschäftigt ist, ist über alle Verlegenheit hinaus.
255.
Nachahmer. — A.: „Wie? Du willst keine Nachahmer?“ B.: „Ich will nicht, dass man mir Etwas nachmache, ich will, dass Jeder sich Etwas vormache: das Selbe, was ich thue.“ A.: „Also —?“
256.
Hautlichkeit. — Alle Menschen der Tiefe haben ihre Glückseligkeit darin, einmal den fliegenden Fischen zu gleichen und auf den äussersten Spitzen der Wellen zu spielen; sie schätzen als das Beste an den Dingen, — dass sie eine Oberfläche haben: ihre Hautlichkeit — sit venia verbo.
257.
Aus der Erfahrung. — Mancher weiss nicht, wie reich er ist, bis er erfährt, was für reiche Menschen an ihm noch zu Dieben werden.
258.
Die Leugner des Zufalls. — Kein Sieger glaubt an den Zufall.
259.
Aus dem Paradiese. — „Gut und böse sind die Vorurtheile Gottes“ — sagte die Schlange.
260.
Ein Mal eins. — Einer hat immer Unrecht: aber mit Zweien beginnt die Wahrheit. — Einer kann sich nicht beweisen: aber Zweie kann man bereits nicht widerlegen.
261.
Originalität. — Was ist Originalität? Etwas sehen, das noch keinen Namen trägt, noch nicht genannt werden kann, ob es gleich vor Aller Augen liegt. Wie die Menschen gewöhnlich sind, macht ihnen erst der Name ein Ding überhaupt sichtbar. — Die Originalen sind zumeist auch die Namengeber gewesen.
262.
Sub specie aeterni. — A.: „Du entfernst dich immer schneller von den Lebenden: bald werden sie dich aus ihren Listen streichen!“ — B.: „Es ist das einzige Mittel, um an dem Vorrecht der Todten theilzuhaben.“ — A.: „An welchem Vorrecht?“ — B.: „Nicht mehr zu sterben.“
263.
Ohne Eitelkeit. — Wenn wir lieben, so wollen wir, dass unsere Mängel verborgen bleiben, — nicht aus Eitelkeit, sondern, weil das geliebte Wesen nicht leiden soll. Ja, der Liebende möchte ein Gott scheinen, — und auch diess nicht aus Eitelkeit.
264.
Was wir thun. — Was wir thun, wird nie verstanden, sondern immer nur gelobt und getadelt.
265.
Letzte Skepsis. — Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen? — Es sind die unwiderlegbaren Irrthümer des Menschen.
266.
Wo Grausamkeit noth thut. — Wer Grösse hat, ist grausam gegen seine Tugenden und Erwägungen zweiten Ranges.
267.
Mit einem grossen Ziele. — Mit einem grossen Ziele ist man sogar der Gerechtigkeit überlegen, nicht nur seinen Thaten und seinen Richtern.
268.
Was macht heroisch? — Zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehn.
269.
Woran glaubst du? — Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.
270.
Was sagt dein Gewissen? — „Du sollst der werden, der du bist.“
271.
Wo liegen deine grössten Gefahren? — Im Mitleiden.
272.
Was liebst du an Anderen? — Meine Hoffnungen.
273.
Wen nennst du schlecht? — Den, der immer beschämen will.
274.
Was ist dir das Menschlichste? — Jemandem Scham ersparen.
275.
Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? — Sich nicht mehr vor sich selber schämen.