Die fröhliche Wissenschaft | 04 | Zweites Buch

Zweites Buch.

57.

An die Realisten. — Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Theil davon, — oh ihr geliebten Bilder von Sais! Aber seid nicht auch ihr in eurem entschleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten Künstler allzu ähnlich? — und was ist für einen verliebten Künstler „Wirklichkeit“! Immer noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch herum, welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben! Immer noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilgbare Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur „Wirklichkeit“ zum Beispiel — oh das ist eine alte uralte „Liebe“! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe: und ebenso hat irgend eine Phantasterei, ein Vorurtheil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch Alles! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran „wirklich“? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet, — eure gesammte Menschheit und Thierheit! Es giebt für uns keine „Wirklichkeit“ — und auch für euch nicht, ihr Nüchternen —, wir sind einander lange nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht ist unser guter Wille, über die Trunkenheit hinauszukommen, ebenso achtbar als euer Glaube, der Trunkenheit überhaupt unfähig zu sein.

58.

Nur als Schaffende! — Diess hat mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch immerfort die grösste Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heissen, als was sie sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass und Gewicht eines Dinges — im Ursprunge zuallermeist ein Irrthum und eine Willkürlichkeit, den Dingen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz fremd — ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber geworden: der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und wirkt als Wesen! Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte „Wirklichkeit“, zu vernichten! Nur als Schaffende können wir vernichten! — Aber vergessen wir auch diess nicht: es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue „Dinge“ zu schaffen.

59.

Wir Künstler! — Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Hass auf die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt ist; gerne denken wir überhaupt daran vorbei, aber wenn einmal unsere Seele diese Dinge streift, so zuckt sie ungeduldig und blickt, wie gesagt, verächtlich nach der Natur hin: — wir sind beleidigt, die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen und mit den ungeweihtesten Händen. Da macht man die Ohren zu gegen alle Physiologie und decretirt für sich insgeheim „ich will davon, dass der Mensch noch etwas Anderes ist, ausser Seele und Form, Nichts hören!“ „Der Mensch unter der Haut“ ist allen Liebenden ein Greuel und Ungedanke, eine Gottes- und Liebeslästerung. — Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfindet, in Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder Verehrer Gottes und seiner „heiligen Allmacht“: bei Allem, was von der Natur gesagt wurde, durch Astronomen, Geologen, Physiologen, Aerzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten Besitz und folglich einen Angriff, — und noch dazu eine Schamlosigkeit des Angreifenden! Das „Naturgesetz “ klang ihm schon wie eine Verleumdung Gottes; im Grunde hätte er gar zu gerne alle Mechanik auf moralische Willens- und Willküracte zurückgeführt gesehn: — aber weil ihm Niemand diesen Dienst erweisen konnte, so verhehlte er sich die Natur und Mechanik, so gut er konnte und lebte im Traum. Oh diese Menschen von ehedem haben verstanden zu träumen und hatten nicht erst nöthig, einzuschlafen! — und auch wir Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem unseren guten Willen zum Wachsein und zum Tage! Es genügt, zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfinden, — sofort kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir steigen offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern — wir Nachtwandler des Tages! Wir Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit! Wir Mond- und Gottsüchtigen! Wir todtenstillen unermüdlichen Wanderer, auf Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten!

60.

Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne. — Habe ich noch Ohren? Bin ich nur noch Ohr und Nichts weiter mehr? Hier stehe ich inmitten des Brandes der Brandung, deren weisse Flammen bis zu meinem Fusse heraufzüngeln: — von allen Seiten heult, droht, schreit, schrillt es auf mich zu, während in der tiefsten Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie singt, dumpf wie ein brüllender Stier: er stampft sich dazu einen solchen Erderschütterer-Tact, dass selbst diesen verwetterten Felsunholden hier das Herz darüber im Leibe zittert. Da, plötzlich, wie aus dem Nichts geboren, erscheint vor dem Thore dieses höllischen Labyrinthes, nur wenige Klafter weit entfernt, — ein grosses Segelschiff, schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend. Oh diese gespenstische Schönheit! Mit welchem Zauber fasst sie mich an! Wie? Hat alle Ruhe und Schweigsamkeit der Welt sich hier eingeschifft? Sitzt mein Glück selber an diesem stillen Platze, mein glücklicheres Ich, mein zweites verewigtes Selbst? Nicht todt sein und doch auch nicht mehr lebend? Als ein geisterhaftes, stilles, schauendes, gleitendes, schwebendes Mittelwesen? Dem Schiffe gleichend, welches mit seinen weissen Segeln wie ein ungeheurer Schmetterling über das dunkle Meer hinläuft! Ja! Ueber das Dasein hinlaufen! Das ist es! Das wäre es! — — Es scheint, der Lärm hier hat mich zum Phantasten gemacht? Aller grosse Lärm macht, dass wir das Glück in die Stille und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten seines Lärmes steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt, — es sind die Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst: an diesen stillen Plätzen werde auch die lauteste Brandung zur Todtenstille und das Leben selber zum Traume über das Leben. Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es giebt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor Allem — Distanz!

61.

Zu Ehren der Freundschaft. — Dass das Gefühl der Freundschaft dem Alterthum als das höchste Gefühl galt, höher selbst als der gerühmteste Stolz des Selbstgenügsamen und Weisen, ja gleichsam als dessen einzige und noch heiligere Geschwisterschaft: diess drückt sehr gut die Geschichte von jenem macedonischen Könige aus, der einem weltverachtenden Philosophen Athen’s ein Talent zum Geschenk machte und es von ihm zurückerhielt. „Wie? sagte der König, hat er denn keinen Freund?“ Damit wollte er sagen: „ich ehre diesen Stolz des Weisen und Unabhängigen, aber ich würde seine Menschlichkeit noch höher ehren, wenn der Freund in ihm den Sieg über seinen Stolz davongetragen hätte. Vor mir hat sich der Philosoph herabgesetzt, indem er zeigte, dass er eines der beiden höchsten Gefühle nicht kennt, — und zwar das höhere nicht!“

62.

Liebe. — Die Liebe vergiebt dem Geliebten sogar die Begierde.

63.

Das Weib in der Musik. — Wie kommt es, dass warme und regnerische Winde auch die musikalische Stimmung und die erfinderische Lust der Melodie mit sich führen? Sind es nicht die selben Winde, welche die Kirchen füllen und den Frauen verliebte Gedanken geben?

64.

Skeptiker. — Ich fürchte, dass altgewordene Frauen im geheimsten Verstecke ihres Herzens skeptischer sind, als alle Männer: sie glauben an die Oberflächlichkeit des Daseins als an sein Wesen, und alle Tugend und Tiefe ist ihnen nur Verhüllung dieser „Wahrheit“, die sehr wünschenswerthe Verhüllung eines pudendum —, also eine Sache des Anstandes und der Scham, und nicht mehr!

65.

Hingebung. — Es giebt edle Frauen mit einer gewissen Armuth des Geistes, welche, um ihre tiefste Hingebung auszudrücken, sich nicht anders zu helfen wissen, als so, dass sie ihre Tugend und Scham anbieten: es ist ihnen ihr Höchstes. Und oft wird diess Geschenk angenommen, ohne so tief zu verpflichten, als die Geberinnen voraussetzen, — eine sehr schwermüthige Geschichte!

66.

Die Stärke der Schwachen. — Alle Frauen sind fein darin, ihre Schwäche zu übertreiben, ja sie sind erfinderisch in Schwächen, um ganz und gar als zerbrechliche Zierathen zu erscheinen, denen selbst ein Stäubchen wehe thut: ihr Dasein soll dem Manne seine Plumpheit zu Gemüthe führen und in’s Gewissen schieben. So wehren sie sich gegen die Starken und alles „Faustrecht“.

67.

Sich selber heucheln. — Sie liebt ihn nun und blickt seitdem mit so ruhigem Vertrauen vor sich hin wie eine Kuh: aber wehe! Gerade diess war seine Bezauberung, dass sie durchaus veränderlich und unfassbar schien! Er hatte eben schon zu viel beständiges Wetter an sich selber! Sollte sie nicht gut thun, ihren alten Charakter zu heucheln? Lieblosigkeit zu heucheln? Räth ihr also nicht — die Liebe? Vivat comoedia!

68.

Wille und Willigkeit. — Man brachte einen Jüngling zu einem weisen Manne und sagte: „Siehe, das ist Einer, der durch die Weiber verdorben wird!“ Der weise Mann schüttelte den Kopf und lächelte. „Die Männer sind es, rief er, welche die Weiber verderben: und Alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern gebüsst und gebessert werden, — denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde.“ — „Du bist zu mildherzig gegen die Weiber, sagte einer der Umstehenden, du kennst sie nicht!“ Der weise Mann antwortete: „Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit, — so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich! ein hartes Gesetz für das Weib! Alle Menschen sind unschuldig für ihr Dasein, die Weiber aber sind unschuldig im zweiten Grade: wer könnte für sie des Oels und der Milde genug haben.“ — Was Oel! Was Milde! rief ein Anderer aus der Menge; man muss die Weiber besser erziehen! — „Man muss die Männer besser erziehen,“ sagte der weise Mann und winkte dem Jünglinge, dass er ihm folge. — Der Jüngling aber folgte ihm nicht.

69.

Fähigkeit zur Rache. — Dass Einer sich nicht vertheidigen kann und folglich auch nicht will, gereicht ihm in unsern Augen noch nicht zur Schande: aber wir schätzen Den gering, der zur Rache weder das Vermögen noch den guten Willen hat, — gleichgültig ob Mann oder Weib. Würde uns ein Weib festhalten (oder wie man sagt „fesseln“) können, dem wir nicht zutrauten, dass es unter Umständen den Dolch (irgend eine Art von Dolch) gegen uns gut zu handhaben wüsste? Oder gegen sich: was in einem bestimmten Falle die empfindlichere Rache wäre (die chinesische Rache).

70.

Die Herrinnen der Herren. — Eine tiefe mächtige Altstimme, wie man sie bisweilen im Theater hört, zieht uns plötzlich den Vorhang vor Möglichkeiten auf, an die wir für gewöhnlich nicht glauben: wir glauben mit Einem Male daran, dass es irgendwo in der Welt Frauen mit hohen, heldenhaften, königlichen Seelen geben könne, fähig und bereit zu grandiosen Entgegnungen, Entschliessungen und Aufopferungen, fähig und bereit zur Herrschaft über Männer, weil in ihnen das Beste vom Manne, über das Geschlecht hinaus, zum leibhaften Ideale geworden ist. Zwar sollen solche Stimmen nach der Absicht des Theaters gerade nicht diesen Begriff vom Weibe geben: gewöhnlich sollen sie den idealen männlichen Liebhaber, zum Beispiel einen Romeo, darstellen; aber nach meiner Erfahrung zu urtheilen, verrechnet sich dabei das Theater und der Musiker, der von einer solchen Stimme solche Wirkungen erwartet, ganz regelmässig. Man glaubt nicht an diese Liebhaber: diese Stimmen enthalten immer noch eine Farbe des Mütterlichen und Hausfrauenhaften, und gerade dann am meisten, wenn Liebe in ihrem Klange ist.

71.

Von der weiblichen Keuschheit. — Es ist etwas ganz Erstaunliches und Ungeheures in der Erziehung der vornehmen Frauen, ja vielleicht giebt es nichts Paradoxeres. Alle Welt ist darüber einverstanden, sie in eroticis so unwissend wie möglich zu erziehen und ihnen eine tiefe Scham vor dergleichen und die äusserste Ungeduld und Flucht beim Andeuten dieser Dinge in die Seele zu geben. Alle „Ehre“ des Weibes steht im Grunde nur hier auf dem Spiele: was verziehe man ihnen sonst nicht! Aber hierin sollen sie unwissend bis in’s Herz hinein bleiben: — sie sollen weder Augen, noch Ohren, noch Worte, noch Gedanken für diess ihr „Böses“ haben: ja das Wissen ist hier schon das Böse. Und nun! Wie mit einem grausigen Blitzschlage in die Wirklichkeit und das Wissen geschleudert werden, mit der Ehe — und zwar durch Den, welchen sie am meisten lieben und hochhalten: Liebe und Scham im Widerspruch ertappen, ja Entzücken, Preisgebung, Pflicht, Mitleid und Schrecken über die unerwartete Nachbarschaft von Gott und Thier und was Alles sonst noch! in Einem empfinden müssen! — Da hat man in der That sich einen Seelen-Knoten geknüpft, der seines Gleichen sucht! Selbst die mitleidige Neugier des weisesten Menschenkenners reicht nicht aus, zu errathen, wie sich dieses und jenes Weib in diese Lösung des Räthsels und in diess Räthsel von Lösung zu finden weiss, und was für schauerliche, weithin greifende Verdachte sich dabei in der armen aus den Fugen gerathenen Seele regen müssen, ja wie die letzte Philosophie und Skepsis des Weibes an diesem Puncte ihre Anker wirft! — Hinterher das selbe tiefe Schweigen wie vorher: und oft ein Schweigen vor sich selber, ein Augen-Zuschliessen vor sich selber. — Die jungen Frauen bemühen sich sehr darum, oberflächlich und gedankenlos zu erscheinen; die feinsten unter ihnen erheucheln eine Art Frechheit. — Die Frauen empfinden leicht ihre Männer als ein Fragezeichen ihrer Ehre und ihre Kinder als eine Apologie oder Busse, — sie bedürfen der Kinder und wünschen sie sich, in einem ganz anderen Sinne als ein Mann sich Kinder wünscht. — Kurz, man kann nicht mild genug gegen die Frauen sein!

72.

Die Mütter. — Die Thiere denken anders über die Weiber, als die Menschen; ihnen gilt das Weibchen als das productive Wesen. Vaterliebe giebt es bei ihnen nicht, aber so Etwas wie Liebe zu den Kindern einer Geliebten und Gewöhnung an sie. Die Weibchen haben an den Kindern Befriedigung ihrer Herrschsucht, ein Eigenthum, eine Beschäftigung, etwas ihnen ganz Verständliches, mit dem man schwätzen kann: diess Alles zusammen ist Mutterliebe, — sie ist mit der Liebe des Künstlers zu seinem Werke zu vergleichen. Die Schwangerschaft hat die Weiber milder, abwartender, furchtsamer, unterwerfungslustiger gemacht; und ebenso erzeugt die geistige Schwangerschaft den Charakter der Contemplativen, welcher dem weiblichen Charakter verwandt ist: — es sind die männlichen Mütter. — Bei den Thieren gilt das männliche Geschlecht als das schöne.

73.

Heilige Grausamkeit. — Zu einem Heiligen trat ein Mann, der ein eben geborenes Kind in den Händen hielt. „Was soll ich mit dem Kinde machen? fragte er, es ist elend, missgestaltet und hat nicht genug Leben, um zu sterben.“ „Tödte es, rief der Heilige mit schrecklicher Stimme, tödte es und halte es dann drei Tage und drei Nächte lang in deinen Armen, auf dass du dir ein Gedächtniss machest: — so wirst du nie wieder ein Kind zeugen, wenn es nicht an der Zeit für dich ist, zu zeugen.“ — Als der Mann diess gehört hatte, gieng er enttäuscht davon; und Viele tadelten den Heiligen, weil er zu einer Grausamkeit gerathen hatte, denn er hatte gerathen, das Kind zu tödten. „Aber ist es nicht grausamer, es leben zu lassen?“ sagte der Heilige.

74.

Die Erfolglosen. — Jenen armen Frauen fehlt es immer an Erfolg, welche in Gegenwart Dessen, den sie lieben, unruhig und unsicher werden und zu viel reden: denn die Männer werden am sichersten durch eine gewisse heimliche und phlegmatische Zärtlichkeit verführt.

75.

Das dritte Geschlecht. — „Ein kleiner Mann ist eine Paradoxie, aber doch ein Mann, — aber die kleinen Weibchen scheinen mir, im Vergleich mit hochwüchsigen Frauen, von einem anderen Geschlechte zu sein“ — sagte ein alter Tanzmeister. Ein kleines Weib ist niemals schön — sagte der alte Aristoteles.

76.

Die grösste Gefahr. — Hätte es nicht allezeit eine Ueberzahl von Menschen gegeben, welche die Zucht ihres Kopfes — ihre „Vernünftigkeit“ — als ihren Stolz, ihre Verpflichtung, ihre Tugend fühlten, welche durch alles Phantasiren und Ausschweifen des Denkens beleidigt oder beschämt wurden, als die Freunde „des gesunden Menschenverstandes“: so wäre die Menschheit längst zu Grunde gegangen! Ueber ihr schwebte und schwebt fortwährend als ihre grösste Gefahr der ausbrechende Irrsinn — das heisst eben das Ausbrechen des Beliebens im Empfinden, Sehen und Hören, der Genuss in der Zuchtlosigkeit des Kopfes, die Freude am Menschen-Unverstande. Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens, kurz das Nicht-Beliebige im Urtheilen. Und die grösste Arbeit der Menschen bisher war die, über sehr viele Dinge mit einander übereinzustimmen und sich ein Gesetz der Uebereinstimmung aufzulegen — gleichgültig, ob diese Dinge wahr oder falsch sind. Diess ist die Zucht des Kopfes, welche die Menschheit erhalten hat; — aber die Gegentriebe sind immer noch so mächtig, dass man im Grunde von der Zukunft der Menschheit mit wenig Vertrauen reden darf. Fortwährend schiebt und verschiebt sich noch das Bild der Dinge, und vielleicht von jetzt ab mehr und schneller als je; fortwährend sträuben sich gerade die ausgesuchtesten Geister gegen jene Allverbindlichkeit — die Erforscher der Wahrheit voran! Fortwährend erzeugt jener Glaube als Allerweltsglaube einen Ekel und eine neue Lüsternheit bei feineren Köpfen: und schon das langsame Tempo, welches er für alle geistigen Processe verlangt, jene Nachahmung der Schildkröte, welche hier als die Norm anerkannt wird, macht Künstler und Dichter zu Ueberläufern: — diese ungeduldigen Geister sind es, in denen eine förmliche Lust am Irrsinn ausbricht, weil der Irrsinn ein so fröhliches Tempo hat! Es bedarf also der tugendhaften Intellecte, — ach! ich will das unzweideutigste Wort gebrauchen — es bedarf der tugendhaften Dummheit, es bedarf unerschütterlicher Tactschläger des langsamen Geistes, damit die Gläubigen des grossen Gesammtglaubens bei einander bleiben und ihren Tanz weitertanzen: es ist eine Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. Wir Andern sind die Ausnahme und die Gefahr, — wir bedürfen ewig der Vertheidigung! — Nun, es lässt sich wirklich etwas zu Gunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt, dass sie nie Regel werden will.

77.

Das Thier mit gutem Gewissen. — Das Gemeine in Alledem, was im Süden Europa’s gefällt — sei diess nun die italiänische Oper (zum Beispiel Rossini’s und Bellini’s) oder der spanische Abenteuer-Roman (uns in der französischen Verkleidung des Gil Blas am besten zugänglich) — bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig als die Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: woher kommt diess? Ist es, dass hier die Scham fehlt und dass alles Gemeine so sicher und seiner gewiss auftritt, wie irgend etwas Edles, Liebliches und Leidenschaftliches in der selben Art Musik oder Roman? „Das Thier hat sein Recht wie der Mensch: so mag es frei herumlaufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch diess Thier noch, trotz Alledem!“ — das scheint mir die Moral der Sache und die Eigenheit der südländischen Humanität zu sein. Der schlechte Geschmack hat sein Recht wie der gute, und sogar ein Vorrecht vor ihm, falls er das grosse Bedürfniss, die sichere Befriedigung und gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt verständliche Larve und Gebärde ist: der gute, gewählte Geschmack hat dagegen immer etwas Suchendes, Versuchtes, seines Verständnisses nicht völlig Gewisses, — er ist und war niemals volksthümlich! Volksthümlich ist und bleibt die Maske! So mag denn alles diess Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen, in den Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes: — und vielleicht war diess Bad den seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nöthiger, als den gemeinen. — Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung in nordischen Werken, zum Beispiel in deutscher Musik, unsäglich. Hier ist Scham dabei, der Künstler ist vor sich selber hinabgestiegen und konnte es nicht einmal verhüten, dabei zu erröthen: wir schämen uns mit ihm und sind so beleidigt, weil wir ahnen, dass er unseretwegen glaubte hinabsteigen zu müssen.

78.

Wofür wir dankbar sein sollen. — Erst die Künstler, und namentlich die des Theaters, haben den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was Jeder selber ist, selber erlebt, selber will; erst sie haben uns die Schätzung des Helden, der in jedem von allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam vereinfacht und verklärt ansehen könne, — die Kunst, sich vor sich selber „in Scene zu setzen“. So allein kommen wir über einige niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer gross und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lässt. — Vielleicht giebt es ein Verdienst ähnlicher Art an jener Religion, welche die Sündhaftigkeit jedes einzelnen Menschen mit dem Vergrösserungsglase ansehen hiess und aus dem Sünder einen grossen, unsterblichen Verbrecher machte: indem sie ewige Perspectiven um ihn beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus der Ferne und als etwas Vergangenes, Ganzes sehen.

79.

Reiz der Unvollkommenheit. — Ich sehe hier einen Dichter, der, wie so mancher Mensch, durch seine Unvollkommenheiten einen höheren Reiz ausübt, als durch alles Das, was sich unter seiner Hand rundet und vollkommen gestaltet, — ja er hat den Vortheil und den Ruhm vielmehr von seinem letzten Unvermögen, als von seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er gesehen haben möchte: es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber: — aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle „Werke“ hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen: und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Glückes eine Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich gesehen und mitgetheilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an’s Ziel gekommen zu sein.

80.

Kunst und Natur. — Die Griechen (oder wenigstens die Athener) hörten gerne gut reden: ja sie hatten einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles Andere von den Nicht-Griechen unterscheidet. Und so verlangten sie selbst von der Leidenschaft auf der Bühne, dass sie gut rede, und liessen die Unnatürlichkeit des dramatischen Verses mit Wonne über sich ergehen: — in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so stumm und verlegen! Oder wenn sie Worte findet, so verwirrt und unvernünftig und sich selber zur Scham! Nun haben wir uns Alle, Dank den Griechen, an diese Unnatur auf der Bühne gewöhnt, wie wir jene andere Unnatur, die singende Leidenschaft ertragen und gerne ertragen, Dank den Italiänern. — Es ist uns ein Bedürfniss geworden, welches wir aus der Wirklichkeit nicht befriedigen können: Menschen in den schwersten Lagen gut und ausführlich reden zu hören: es entzückt uns jetzt, wenn der tragische Held da noch Worte, Gründe, beredte Gebärden und im Ganzen eine helle Geistigkeit findet, wo das Leben sich den Abgründen nähert, und der wirkliche Mensch meistens den Kopf und gewiss die schöne Sprache verliert. Diese Art Abweichung von der Natur ist vielleicht die angenehmste Mahlzeit für den Stolz des Menschen; ihretwegen überhaupt liebt er die Kunst, als den Ausdruck einer hohen, heldenhaften Unnatürlichkeit und Convention. Man macht mit Recht dem dramatischen Dichter einen Vorwurf daraus, wenn er nicht Alles in Vernunft und Wort verwandelt, sondern immer einen Rest Schweigen in der Hand zurückbehält: — so wie man mit dem Musiker der Oper unzufrieden ist, der für den höchsten Affect nicht eine Melodie, sondern nur ein affectvolles „natürliches“ Stammeln und Schreien zu finden weiss. Hier soll eben der Natur widersprochen werden! Hier soll eben der gemeine Reiz der Illusion einem höheren Reize weichen! Die Griechen gehen auf diesem Wege weit, weit — zum Erschrecken weit! Wie sie die Bühne so schmal wie möglich bilden und alle Wirkung durch tiefe Hintergründe sich verbieten, wie sie dem Schauspieler das Mienenspiel und die leichte Bewegung unmöglich machen und ihn in einen feierlichen, steifen, maskenhaften Popanz verwandeln, so haben sie auch der Leidenschaft selber den tiefen Hintergrund genommen und ihr ein Gesetz der schönen Rede dictirt, ja sie haben überhaupt Alles gethan, um der elementaren Wirkung furcht- und mitleiderweckender Bilder entgegenzuwirken: sie wollten eben nicht Furcht und Mitleid, — Aristoteles in Ehren und höchsten Ehren! aber er traf sicherlich nicht den Nagel, geschweige den Kopf des Nagels, als er vom letzten Zweck der griechischen Tragödie sprach! Man sehe sich doch die griechischen Dichter der Tragödie darauf hin an, was am Meisten ihren Fleiss, ihre Erfindsamkeit, ihren Wetteifer erregt hat, — gewiss nicht die Absicht auf Ueberwältigung der Zuschauer durch Affecte! Der Athener gieng in’s Theater, um schöne Reden zu hören! Und um schöne Reden war es dem Sophokles zu thun! — man vergebe mir diese Ketzerei! — Sehr verschieden steht es mit der ernsten Oper: alle ihre Meister lassen es sich angelegen sein, zu verhüten, dass man ihre Personen verstehe. Ein gelegentlich aufgerafftes Wort mag dem unaufmerksamen Zuhörer zu Hülfe kommen: im Ganzen muss die Situation sich selber erklären, — es liegt Nichts an den Reden! — so denken sie Alle und so haben sie Alle mit den Worten ihre Possen getrieben. Vielleicht hat es ihnen nur an Muth gefehlt, um ihre letzte Geringschätzung des Wortes ganz auszudrücken: ein wenig Frechheit mehr bei Rossini und er hätte durchweg la-la-la-la singen lassen — und es wäre Vernunft dabei gewesen! Es soll den Personen der Oper eben nicht „auf’s Wort“ geglaubt werden, sondern auf den Ton! Das ist der Unterschied, das ist die schöne Unnatürlichkeit, derentwegen man in die Oper geht! Selbst das recitativo secco will nicht eigentlich als Wort und Text angehört sein: diese Art von Halbmusik soll vielmehr dem musicalischen Ohre zunächst eine kleine Ruhe geben (die Ruhe von der Melodie, als dem sublimsten und desshalb auch anstrengendsten Genusse dieser Kunst) —, aber sehr bald etwas Anderes: nämlich eine wachsende Ungeduld, ein wachsendes Widerstreben, eine neue Begierde nach ganzer Musik, nach Melodie. — Wie verhält es sich, von diesem Gesichtspuncte aus gesehen, mit der Kunst Richard Wagner’s? Vielleicht anders? Oft wollte es mir scheinen, als ob man Wort und Musik seiner Schöpfungen vor der Aufführung auswendig gelernt haben müßte: denn ohne diess — so schien es mir — höre man weder die Worte noch selber die Musik.

81.

Griechischer Geschmack. — „Was ist Schönes daran? — sagte jener Feldmesser nach einer Aufführung der Iphigenie — es wird Nichts darin bewiesen!“ Sollten die Griechen so fern von diesem Geschmacke gewesen sein? Bei Sophokles wenigstens wird „Alles bewiesen“.

82.

Der esprit ungriechisch. — Die Griechen sind in allem ihrem Denken unbeschreiblich logisch und schlicht; sie sind dessen, wenigstens für ihre lange gute Zeit, nicht überdrüssig geworden, wie die Franzosen es so häufig werden: welche gar zu gerne einen kleinen Sprung in’s Gegentheil machen und den Geist der Logik eigentlich nur vertragen, wenn er durch eine Menge solcher kleiner Sprünge in’s Gegentheil seine gesellige Artigkeit, seine gesellige Selbstverleugnung verräth. Logik erscheint ihnen als nothwendig, wie Brod und Wasser, aber auch gleich diesen als eine Art Gefangenenkost, sobald sie rein und allein genossen werden sollen. In der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig und allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die kleine Dosis Unvernunft in allem französischen esprit. — Der gesellige Sinn der Griechen war bei Weitem weniger entwickelt, als der der Franzosen es ist und war: daher so wenig esprit bei ihren geistreichsten Männern, daher so wenig Witz selbst bei ihren Witzbolden, daher — ach! Man wird mir schon diese meine Sätze nicht glauben, und wie viele der Art habe ich noch auf der Seele! — Est res magna tacere — sagt Martial mit allen Geschwätzigen.

83.

Uebersetzungen. — Man kann den Grad des historischen Sinnes, welchen eine Zeit besitzt, daran abschätzen, wie diese Zeit Uebersetzungen macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht. Die Franzosen Corneille’s, und auch noch die der Revolution, bemächtigten sich des römischen Alterthums in einer Weise, zu der wir nicht den Muth mehr hätten — Dank unserem höheren historischen Sinne. Und das römische Alterthum selbst: wie gewaltsam und naiv zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe des griechischen älteren Alterthums! Wie übersetzten sie in die römische Gegenwart hinein! Wie verwischten sie absichtlich und unbekümmert den Flügelstaub des Schmetterlings Augenblick! So übersetzte Horaz hier und da den Alcäus oder den Archilochus, so Properz den Callimachus und Philetas (Dichter gleichen Ranges mit Theokrit, wenn wir urtheilen dürfen): was lag ihnen daran, dass der eigentliche Schöpfer Diess und Jenes erlebt und die Zeichen davon in sein Gedicht hineingeschrieben hatte! — als Dichter waren sie dem antiquarischen Spürgeiste, der dem historischen Sinne voranläuft, abhold, als Dichter liessen sie diese ganz persönlichen Dinge und Namen und Alles, was einer Stadt, einer Küste, einem Jahrhundert als seine Tracht und Maske zu eigen war, nicht gelten, sondern stellten flugs das Gegenwärtige und das Römische an seine Stelle. Sie scheinen uns zu fragen: „Sollen wir das Alte nicht für uns neu machen und uns in ihm zurechtlegen? Sollen wir nicht unsere Seele diesem todten Leibe einblasen dürfen? denn todt ist er nun einmal: wie hässlich ist alles Todte!“ — Sie kannten den Genuss des historischen Sinnes nicht; das Vergangene und Fremde war ihnen peinlich, und als Römern ein Anreiz zu einer römischen Eroberung. In der That, man eroberte damals, wenn man übersetzte, — nicht nur so, dass man das Historische wegliess: nein, man fügte die Anspielung auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor Allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den eigenen an seine Stelle — nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern mit dem allerbesten Gewissen des imperium Romanum.

84.

Vom Ursprunge der Poesie. — Die Liebhaber des Phantastischen am Menschen, welche zugleich die Lehre von der instinctiven Moralität vertreten, schliessen so: „gesetzt, man habe zu allen Zeiten den Nutzen als die höchste Gottheit verehrt, woher dann in aller Welt ist die Poesie gekommen? — diese Rhythmisirung der Rede, welche der Deutlichkeit der Mittheilung eher entgegenwirkt, als förderlich ist, und die trotzdem wie ein Hohn auf alle nützliche Zweckmässigkeit überall auf Erden aufgeschossen ist und noch aufschiesst! Die wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt euch, ihr Utilitarier! Gerade vom Nutzen einmal loskommen wollen — das hat den Menschen erhoben, das hat ihn zur Moralität und Kunst inspirirt!“ Nun ich muss hierin einmal den Utilitariern zu Gefallen reden, — sie haben ja so selten Recht, dass es zum Erbarmen ist! Man hatte in jenen alten Zeiten, welche die Poesie in’s Dasein riefen, doch die Nützlichkeit dabei im Auge und eine sehr grosse Nützlichkeit — damals als man den Rhythmus in die Rede dringen liess, jene Gewalt die alle Atome des Satzes neu ordnet, die Worte wählen heisst und den Gedanken neu färbt und dunkler, fremder, ferner macht: freilich eine abergläubische Nützlichkeit! Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtniss behält, als eine ungebundene Rede; ebenfalls meinte man durch das rhythmische Tiktak über grössere Fernen hin sich hörbar zu machen; das rhythmisirte Gebet schien den Göttern näher an’s Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, — wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um. Es gab noch eine wunderlichere Vorstellung: und diese gerade hat vielleicht am mächtigsten zur Entstehung der Poesie gewirkt. Bei den Phythagoreern erscheint sie als philosophische Lehre und als Kunstgriff der Erziehung: aber längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern — und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers, — das war das Recept dieser Heilkunst. Mit ihr stillte Terpander einen Aufruhr, besänftigte Empedokles einen Rasenden, reinigte Damon einen liebessiechen Jüngling; mit ihr nahm man auch die wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Cur. Zuerst dadurch, dass man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer Affecte auf’s Höchste trieb, also den Rasenden toll, den Rachsüchtigen rachetrunken machte: — alle orgiastischen Culte wollen die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal entladen und zur Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und ruhiger fühle und den Menschen in Ruhe lasse. Melos bedeutet seiner Wurzel nach ein Besänftigungsmittel, nicht weil es selber sanft ist, sondern weil seine Nachwirkung sanft macht. — Und nicht nur im Cultusliede, auch bei dem weltlichen Liede der ältesten Zeiten ist die Voraussetzung, dass das Rhythmische eine magische Kraft übe, zum Beispiel beim Wasserschöpfen oder Rudern, das Lied ist eine Bezauberung der hierbei thätig gedachten Dämonen, es macht sie willfährig, unfrei und zum Werkzeug des Menschen. Und so oft man handelt, hat man einen Anlass zu singen, — jede Handlung ist an die Beihülfe von Geistern geknüpft: Zauberlied und Besprechung scheinen die Urgestalt der Poesie zu sein. Wenn der Vers auch beim Orakel verwendet wurde — die Griechen sagten, der Hexameter sei in Delphi erfunden —, so sollte der Rhythmus auch hier einen Zwang ausüben. Sich prophezeien lassen — das bedeutet ursprünglich (nach der mir wahrscheinlichen Ableitung des griechischen Wortes): sich Etwas bestimmen lassen; man glaubt die Zukunft erzwingen zu können dadurch, dass man Apollo für sich gewinnt: er, der nach der ältesten Vorstellung viel mehr, als ein vorhersehender Gott ist. So wie die Formel ausgesprochen wird, buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft: die Formel aber ist die Erfindung Apollo’s, welcher als Gott der Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals binden kann. — Im Ganzen gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische Art des Menschen überhaupt etwas Nützlicheres, als den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles: eine Arbeit magisch fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend einem Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene Seele, sondern die des bösesten Dämons, — ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott. Ein solches Grundgefühl lässt sich nicht mehr völlig ausrotten, — und noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt. Ist es nicht eine sehr lustige Sache, dass immer noch die ernstesten Philosophen, so streng sie es sonst mit aller Gewissheit nehmen, sich auf Dichtersprüche berufen, um ihren Gedanken Kraft und Glaubwürdigkeit zu geben? — und doch ist es für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht! Denn wie Homer sagt: „Viel ja lügen die Sänger!“ —

85.

Das Gute und das Schöne. — Die Künstler verherrlichen fortwährend — sie thun nichts Anderes —: und zwar alle jene Zustände und Dinge, welche in dem Rufe stehen, dass bei ihnen und in ihnen der Mensch sich einmal gut oder gross, oder trunken, oder lustig, oder wohl und weise fühlen kann. Diese ausgelesenen Dinge und Zustände, deren Werth für das menschliche Glück als sicher und abgeschätzt gilt, sind die Objecte der Künstler: sie liegen immer auf der Lauer, dergleichen zu entdecken und in’s Gebiet der Kunst hinüberzuziehen. Ich will sagen: sie sind nicht selber die Taxatoren des Glückes und des Glücklichen, aber sie drängen sich immer in die Nähe dieser Taxatoren, mit der grössten Neugierde und Lust, sich ihre Schätzungen sofort zu Nutze zu machen. So werden sie, weil sie ausser ihrer Ungeduld auch die grossen Lungen der Herolde und die Füsse der Läufer haben, immer auch unter den Ersten sein, die das neue Gute verherrlichen, und oft als Die erscheinen, welche es zuerst gut nennen und als gut taxiren. Diess aber ist, wie gesagt, ein Irrthum: sie sind nur geschwinder und lauter, als die wirklichen Taxatoren. — Und wer sind denn diese? — Es sind die Reichen und die Müssigen.

86.

Vom Theater. — Dieser Tag gab mir wieder starke und hohe Gefühle, und wenn ich an seinem Abende Musik und Kunst haben könnte, so weiss ich wohl, welche Musik und Kunst ich nicht haben möchte, nämlich alle jene nicht, welche ihre Zuhörer berauschen und zu einem Augenblicke starken und hohen Gefühls emportreiben möchte, — jene Menschen des Alltags der Seele, die am Abende nicht Siegern auf Triumphwägen gleichen, sondern müden Maulthieren, an denen das Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat. Was würden jene Menschen überhaupt von „höheren Stimmungen“ wissen, wenn es nicht rauscherzeugende Mittel und idealische Peitschenschläge gäbe! — und so haben sie ihre Begeisterer, wie sie ihre Weine haben. Aber was ist mir ihr Getränk und ihre Trunkenheit! Was braucht der Begeisterte den Wein! Vielmehr blickt er mit einer Art von Ekel auf die Mittel und Mittler hin, welche hier eine Wirkung ohne zureichenden Grund erzeugen sollen, — eine Nachäffung der hohen Seelenfluth! — Wie? Man schenkt dem Maulwurf Flügel und stolze Einbildungen, — vor Schlafengehen, bevor er in seine Höhle kriecht? Man schickt ihn in’s Theater und setzt ihm grosse Gläser vor seine blinden und müden Augen? Menschen, deren Leben keine „Handlung“, sondern ein Geschäft ist, sitzen vor der Bühne und schauen fremdartigen Wesen zu, denen das Leben mehr ist, als ein Geschäft? „So ist es anständig“, sagt ihr, „so ist es unterhaltend, so will es die Bildung!“ — Nun denn! So fehlt mir allzuoft die Bildung: denn dieser Anblick ist mir allzuoft ekelhaft. Wer an sich der Tragödie und Komödie genug hat, bleibt wohl am Liebsten fern vom Theater; oder, zur Ausnahme, der ganze Vorgang — Theater und Publicum und Dichter eingerechnet — wird ihm zum eigentlichen tragischen und komischen Schauspiel, sodass das aufgeführte Stück dagegen ihm nur wenig bedeutet. Wer Etwas wie Faust und Manfred ist, was liegt dem an den Fausten und Manfreden des Theaters! — während es ihm gewiss noch zu denken giebt, dass man überhaupt dergleichen Figuren auf’s Theater bringt. Die stärksten Gedanken und Leidenschaften vor Denen, welche des Denkens und der Leidenschaft nicht fähig sind — aber des Rausches! Und jene als ein Mittel zu diesem! Und Theater und Musik das Haschisch-Rauchen und Betel-Kauen der Europäer! Oh wer erzählt uns die ganze Geschichte der Narcotica! — Es ist beinahe die Geschichte der „Bildung“, der sogenannten höheren Bildung!

87.

Von der Eitelkeit der Künstler. — Ich glaube, dass die Künstler oft nicht wissen, was sie am besten können, weil sie zu eitel sind und ihren Sinn auf etwas Stolzeres gerichtet haben, als diese kleinen Pflanzen zu sein scheinen, welche neu, seltsam und schön, in wirklicher Vollkommenheit auf ihrem Boden zu wachsen vermögen. Das letzthin Gute ihres eigenen Gartens und Weinbergs wird von ihnen obenhin abgeschätzt, und ihre Liebe und ihre Einsicht sind nicht gleichen Ranges. Da ist ein Musiker, der mehr als irgend ein Musiker darin seine Meisterschaft hat, die Töne aus dem Reiche leidender, gedrückter, gemarterter Seelen zu finden und auch noch den stummen Thieren Sprache zu geben. Niemand kommt ihm gleich in den Farben des späten Herbstes, dem unbeschreiblich rührenden Glücke eines letzten, allerletzten, allerkürzesten Geniessens, er kennt einen Klang für jene heimlich-unheimlichen Mitternächte der Seele, wo Ursache und Wirkung aus den Fugen gekommen zu sein scheinen und jeden Augenblick Etwas „aus dem Nichts“ entstehen kann; er schöpft am glücklichsten von Allen aus dem unteren Grunde des menschlichen Glückes und gleichsam aus dessen ausgetrunkenem Becher, wo die herbsten und widrigsten Tropfen zu guter- und böserletzt mit den süssesten zusammengelaufen sind; er kennt jenes müde Sich-schieben der Seele, die nicht mehr springen und fliegen, ja nicht mehr gehen kann; er hat den scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne Trost, des Abschiednehmens ohne Geständniss; ja, als der Orpheus alles heimlichen Elendes ist er grösser, als irgend Einer, und Manches ist durch ihn überhaupt der Kunst hinzugefügt worden, was bisher unausdrückbar und selbst der Kunst unwürdig erschien, und mit Worten namentlich nur zu verscheuchen, nicht zu fassen war, — manches ganz Kleine und Mikroskopische der Seele: ja, es ist der Meister des ganz Kleinen. Aber er will es nicht sein! Sein Charakter liebt vielmehr die grossen Wände und die verwegene Wandmalerei! Es entgeht ihm, dass sein Geist einen anderen Geschmack und Hang hat und am liebsten still in den Winkeln zusammengestürzter Häuser sitzt: — da, verborgen, sich selber verborgen, malt er seine eigentlichen Meisterstücke, welche alle sehr kurz sind, oft nur Einen Tact lang, — da erst wird er ganz gut, gross und vollkommen, da vielleicht allein. — Aber er weiss es nicht! Er ist zu eitel dazu, es zu wissen.

88.

Der Ernst um die Wahrheit. — Ernst um die Wahrheit! Wie Verschiedenes verstehen die Menschen bei diesen Worten! Eben die selben Ansichten und Arten von Beweis und Prüfung, welche ein Denker an sich wie eine Leichtfertigkeit empfindet, der er zu seiner Scham in dieser oder jener Stunde unterlegen ist, — eben die selben Ansichten können einem Künstler, der auf sie stösst und mit ihnen zeitweilig lebt, das Bewusstsein geben, jetzt habe ihn der tiefste Ernst um die Wahrheit erfasst, und es sei bewunderungswürdig, dass er, obschon Künstler, doch zugleich die ernsthafteste Begierde nach dem Gegensatze des Scheinenden zeige. So ist es möglich, dass Einer gerade mit seinem Pathos von Ernsthaftigkeit verräth, wie oberflächlich und genügsam sein Geist bisher im Reiche der Erkenntniss gespielt hat. — Und ist nicht Alles, was wir wichtig nehmen, unser Verräther? Es zeigt, wo unsere Gewichte liegen und wofür wir keine Gewichte besitzen.

89.

Jetzt und ehedem. — Was liegt an aller unsrer Kunst der Kunstwerke, wenn jene höhere Kunst, die Kunst der Feste, uns abhanden kommt! Ehemals waren alle Kunstwerke an der grossen Feststrasse der Menschheit aufgestellt, als Erinnerungszeichen und Denkmäler hoher und seliger Momente. Jetzt will man mit den Kunstwerken die armen Erschöpften und Kranken von der grossen Leidensstrasse der Menschheit bei Seite locken, für ein lüsternes Augenblickchen; man bietet ihnen einen kleinen Rausch und Wahnsinn an.

90.

Lichter und Schatten. — Die Bücher und Niederschriften sind bei verschiedenen Denkern Verschiedenes: der Eine hat im Buche die Lichter zusammengebracht, die er geschwind aus den Strahlen einer ihm aufleuchtenden Erkenntniss wegzustehlen und heimzutragen wusste; ein Anderer giebt nur die Schatten, die Nachbilder in Grau und Schwarz von dem wieder, was Tags zuvor in seiner Seele sich aufbaute.

91.

Vorsicht. — Alfieri hat, wie bekannt, sehr viel gelogen, als er den erstaunten Zeitgenossen seine Lebensgeschichte erzählte. Er log aus jenem Despotismus gegen sich selber, den er zum Beispiel in der Art bewies, wie er sich seine eigene Sprache schuf und sich zum Dichter tyrannisirte: — er hatte endlich eine strenge Form von Erhabenheit gefunden, in welche er sein Leben und sein Gedächtniss hineinpresste: es wird viel Qual dabei gewesen sein. — Ich würde auch einer Lebensgeschichte Platon’s, von ihm selber geschrieben, keinen Glauben schenken: so wenig, als der Rousseau’s, oder der vita nuova Dante’s.

92.

Prosa und Poesie. — Man beachte doch, dass die grossen Meister der Prosa fast immer auch Dichter gewesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im Geheimen und für das „Kämmerlein“; und fürwahr, man schreibt nur im Angesichte der Poesie gute Prosa! Denn diese ist ein ununterbrochener artiger Krieg mit der Poesie: alle ihre Reize bestehen darin, dass beständig der Poesie ausgewichen und widersprochen wird; jedes Abstractum will als Schalkheit gegen diese und wie mit spöttischer Stimme vorgetragen sein; jede Trockenheit und Kühle soll die liebliche Göttin in eine liebliche Verzweifelung bringen; oft giebt es Annäherungen, Versöhnungen des Augenblickes und dann ein plötzliches Zurückspringen und Auslachen; oft wird der Vorhang aufgezogen und grelles Licht hereingelassen, während gerade die Göttin ihre Dämmerungen und dumpfen Farben geniesst; oft wird ihr das Wort aus dem Munde genommen und nach einer Melodie abgesungen, bei der sie die feinen Hände vor die feinen Oehrchen hält — und so giebt es tausend Vergnügungen des Krieges, die Niederlagen mitgezählt, von denen die Unpoetischen, die sogenannten Prosa-Menschen, gar Nichts wissen: — diese schreiben und sprechen denn auch nur schlechte Prosa! Der Krieg ist der Vater aller guten Dinge, der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa! — Vier sehr seltsame und wahrhaft dichterische Menschen waren es in diesem Jahrhundert, welche an die Meisterschaft der Prosa gereicht haben, für die sonst diess Jahrhundert nicht gemacht ist — aus Mangel an Poesie, wie angedeutet. Um von Goethe abzusehen, welchen billigerweise das Jahrhundert in Anspruch nimmt, das ihn hervorbrachte: so sehe ich nur Giacomo Leopardi, Prosper Mérimée, Ralph Waldo Emerson und Walter Savage Landor, den Verfasser der Imaginary Conversations, als würdig an, Meister der Prosa zu heissen.

93.

Aber warum schreibst denn du? — A.: Ich gehöre nicht zu Denen, welche mit der nassen Feder in der Hand denken; und noch weniger zu Jenen, die sich gar vor dem offenen Tintenfasse ihren Leidenschaften überlassen, auf ihrem Stuhle sitzend und auf’s Papier starrend. Ich ärgere oder schäme mich alles Schreibens; Schreiben ist für mich eine Nothdurft, — selbst im Gleichniss davon zu reden, ist mir widerlich. B.: Aber warum schreibst du dann? A.: Ja, mein Lieber, im Vertrauen gesagt: ich habe bisher noch kein anderes Mittel gefunden, meine Gedanken los zu werden. B.: Und warum willst du sie los werden? A.: Warum ich will? Will ich denn? Ich muss. — B.: Genug! Genug!

94.

Wachsthum nach dem Tode. — Jene kleinen verwegenen Worte über moralische Dinge, welche Fontenelle in seinen unsterblichen Todtengesprächen hinwarf, galten seiner Zeit als Paradoxien und Spiele eines nicht unbedenklichen Witzes; selbst die höchsten Richter des Geschmackes und des Geistes sahen nicht mehr darin, — ja, vielleicht Fontenelle selber nicht. Nun ereignet sich etwas Unglaubliches: diese Gedanken werden Wahrheiten! Die Wissenschaft beweist sie! Das Spiel wird zum Ernst! Und wir lesen jene Dialoge mit einer anderen Empfindung, als Voltaire und Helvetius sie lasen, und heben unwillkürlich ihren Urheber in eine andere und viel höhere Rangclasse der Geister, als Jene thaten, — mit Recht? Mit Unrecht?

95.

Chamfort. — Dass ein solcher Kenner der Menschen und der Menge, wie Chamfort, eben der Menge beisprang und nicht in philosophischer Entsagung und Abwehr seitwärts stehen blieb, das weiss ich mir nicht anders zu erklären, als so: Ein Instinct war in ihm stärker, als seine Weisheit, und war nie befriedigt worden, der Hass gegen alle Noblesse des Geblüts: vielleicht der alte nur zu erklärliche Hass seiner Mutter, welcher durch die Liebe zur Mutter in ihm heilig gesprochen war, — ein Instinct der Rache von seinen Knabenjahren her, der die Stunde erwartete, die Mutter zu rächen. Und nun hatte ihn das Leben und sein Genie, und ach! am meisten wohl das väterliche Blut in seinen Adern dazu verführt, eben dieser Noblesse sich einzureihen und gleichzustellen — viele viele Jahre lang! Endlich ertrug er aber seinen eigenen Anblick, den Anblick des „alten Menschen“ unter dem alten Regime nicht mehr; er gerieth in eine heftige Leidenschaft der Busse, und in dieser zog er das Gewand des Pöbels an, als seine Art von härener Kutte! Sein böses Gewissen war die Versäumniss der Rache. — Gesetzt, Chamfort wäre damals um einen Grad mehr Philosoph geblieben, so hätte die Revolution ihren tragischen Witz und ihren schärfsten Stachel nicht bekommen: sie würde als ein viel dümmeres Ereigniss gelten und keine solche Verführung der Geister sein. Aber der Hass und die Rache Chamfort’s erzogen ein ganzes Geschlecht: und die erlauchtesten Menschen machten diese Schule durch. Man erwäge doch, dass Mirabeau zu Chamfort wie zu seinem höheren und älteren Selbst aufsah, von dem er Antriebe, Warnungen und Richtersprüche erwartete und ertrug, — Mirabeau, der als Mensch zu einem ganz anderen Range der Grösse gehört, als selbst die Ersten unter den staatsmännischen Grössen von gestern und heute. — Seltsam, dass trotz einem solchen Freunde und Fürsprecher — man hat ja die Briefe Mirabeau’s an Chamfort — dieser witzigste aller Moralisten den Franzosen fremd geblieben ist, nicht anders, als Stendhal, der vielleicht unter allen Franzosen dieses Jahrhunderts die gedankenreichsten Augen und Ohren gehabt hat. Ist es, dass Letzterer im Grunde zu viel von einem Deutschen und Engländer an sich hatte, um den Parisern noch erträglich zu sein? — während Chamfort, ein Mensch, reich an Tiefen und Hintergründen der Seele, düster, leidend, glühend, — ein Denker, der das Lachen als das Heilmittel gegen das Leben nöthig fand, und der sich beinahe verloren gab, an jedem Tage, wo er nicht gelacht hatte, — vielmehr wie ein Italiäner und Blutsverwandter Dante’s und Leopardi’s erscheint, als wie ein Franzose! Man kennt die letzten Worte Chamfort’s: „Ah! mon ami, sagte er zu Sieyès, je m’en vais enfin de ce monde, où il faut que le coeur se brise ou se bronze —“. Das sind sicherlich nicht Worte eines sterbenden Franzosen.

96.

Zwei Redner. — Von diesen beiden Rednern erreicht der eine die ganze Vernunft seiner Sache nur dann, wenn er sich der Leidenschaft überlässt: erst diese pumpt genug Blut und Hitze ihm in’s Gehirn, um seine hohe Geistigkeit zur Offenbarung zu zwingen. Der Andere versucht wohl hier und da das Selbe: mit Hülfe der Leidenschaft seine Sache volltönend, heftig und hinreissend vorzubringen, — aber gewöhnlich mit einem schlechten Erfolge. Er redet dann sehr bald dunkel und verwirrt, er übertreibt, macht Auslassungen und erregt gegen die Vernunft seiner Sache Misstrauen: ja, er selber empfindet dabei diess Misstrauen, und daraus erklären sich plötzliche Sprünge in die kältesten und abstossendsten Töne, welche in dem Zuhörer einen Zweifel erregen, ob seine ganze Leidenschaftlichkeit ächt gewesen sei. Bei ihm überfluthet jedes Mal die Leidenschaft den Geist; vielleicht, weil sie stärker ist, als bei dem Ersten. Aber er ist auf der Höhe seiner Kraft, wenn er dem andringenden Sturme seiner Empfindung widersteht und ihn gleichsam verhöhnt: da erst tritt sein Geist ganz aus seinem Versteck heraus, ein logischer, spöttischer, spielender, und doch furchtbarer Geist.

97.

Von der Geschwätzigkeit der Schriftsteller. — Es giebt eine Geschwätzigkeit des Zornes, — häufig bei Luther, auch bei Schopenhauer. Eine Geschwätzigkeit aus einem zu grossen Vorrathe von Begriffsformeln wie bei Kant. Eine Geschwätzigkeit aus Lust an immer neuen Wendungen der selben Sache: man findet sie bei Montaigne. Eine Geschwätzigkeit hämischer Naturen: wer Schriften dieser Zeit liest, wird sich hierbei zweier Schriftsteller erinnern. Eine Geschwätzigkeit aus Lust an guten Worten und Sprachformen: nicht selten in der Prosa Goethe’s. Eine Geschwätzigkeit aus innerem Wohlgefallen an Lärm und Wirrwarr der Empfindungen: zum Beispiel bei Carlyle.

98.

Zum Ruhme Shakespeare’s. — Das Schönste, was ich zum Ruhme Shakespeare’s, des Menschen, zu sagen wüsste, ist diess: er hat an Brutus geglaubt und kein Stäubchen Misstrauens auf diese Art Tugend geworfen! Ihm hat er seine beste Tragödie geweiht — sie wird jetzt immer noch mit einem falschen Namen genannt —, ihm und dem furchtbarsten Inbegriff hoher Moral. Unabhängigkeit der Seele! — das gilt es hier! Kein Opfer kann da zu gross sein: seinen liebsten Freund selbst muss man ihr opfern können, und sei er noch dazu der herrlichste Mensch, die Zierde der Welt, das Genie ohne Gleichen, — wenn man nämlich die Freiheit als die Freiheit grosser Seelen liebt, und durch ihn dieser Freiheit Gefahr droht: — derart muss Shakespeare gefühlt haben! Die Höhe, in welche er Cäsar stellt, ist die feinste Ehre, die er Brutus erweisen konnte: so erst erhebt er dessen inneres Problem in’s Ungeheure und ebenso die seelische Kraft, welche diesen Knoten zu zerhauen vermochte! — Und war es wirklich die politische Freiheit, welche diesen Dichter zum Mitgefühl mit Brutus trieb, — zum Mitschuldigen des Brutus machte? Oder war die politische Freiheit nur eine Symbolik für irgend etwas Unaussprechbares? Stehen wir vielleicht vor irgend einem unbekannt gebliebenen dunklen Ereignisse und Abenteuer aus des Dichters eigener Seele, von dem er nur durch Zeichen reden mochte? Was ist alle Hamlet-Melancholie gegen die Melancholie des Brutus! — und vielleicht kennt Shakespeare auch diese, wie er jene kannte, aus Erfahrung! Vielleicht hatte auch er seine finstere Stunde und seinen bösen Engel, gleich Brutus! — Was es aber auch derart von Aehnlichkeiten und geheimen Bezügen gegeben haben mag: vor der ganzen Gestalt und Tugend des Brutus warf Shakespeare sich auf den Boden und fühlte sich unwürdig und ferne: — das Zeugniss dafür hat er in seine Tragödie hineingeschrieben. Zweimal hat er in ihr einen Poeten vorgeführt und zweimal eine solche ungeduldige und allerletzte Verachtung über ihn geschüttet, dass es wie ein Schrei klingt, — wie der Schrei der Selbstverachtung. Brutus, selbst Brutus verliert die Geduld, als der Poet auftritt, eingebildet, pathetisch, zudringlich, wie Poeten zu sein pflegen, als ein Wesen, welches von Möglichkeiten der Grösse, auch der sittlichen Grösse, zu strotzen scheint und es doch in der Philosophie der That und des Lebens selten selbst bis zur gemeinen Rechtschaffenheit bringt. „Kennt er die Zeit, so kenn’ ich seine Launen, — fort mit dem Schellen-Hanswurst!“ — ruft Brutus. Man übersetze sich diess zurück in die Seele des Poeten, der es dichtete.

99.

Die Anhänger Schopenhauer’s. — Was man bei der Berührung von Cultur-Völkern und Barbaren zu sehen bekommt: dass regelmässig die niedrigere Cultur von der höheren zuerst deren Laster, Schwächen und Ausschweifungen annimmt, von da aus einen Reiz auf sich ausgeübt fühlt und endlich vermittelst der angeeigneten Laster und Schwächen Etwas von der werthhaltigen Kraft der höheren Cultur mit auf sich überströmen lässt: — das kann man auch in der Nähe und ohne Reisen zu Barbaren-Völkern mit ansehen, freilich etwas verfeinert und vergeistigt und nicht so leicht mit Händen zu greifen. Was pflegen doch die Anhänger Schopenhauer’s in Deutschland von ihrem Meister zuerst anzunehmen? — als welche, im Vergleich zu dessen überlegener Cultur, sich barbarenhaft genug vorkommen müssen, um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fascinirt und verführt zu werden. Ist es sein harter Thatsachen-Sinn, sein guter Wille zu Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen lässt? Oder die Stärke seines intellectuellen Gewissens, das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollen aushielt und ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Puncte zu widersprechen? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christlichen Gottes? — denn hierin war er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so dass er „als Voltairianer“ lebte und starb. Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellectualität der Anschauung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, von der Werkzeug-Natur des Intellects und der Unfreiheit des Willens? Nein, diess Alles bezaubert nicht und wird nicht als bezaubernd gefühlt: aber die mystischen Verlegenheiten und Ausflüchte Schopenhauer’s, an jenen Stellen, wo der Thatsachen-Denker sich vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben liess, die unbeweisbare Lehre von Einem Willen („alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen der Erscheinung des Willens zu dieser Zeit, an diesem Orte“, „der Wille zum Leben ist in jedem Wesen, auch dem geringsten, ganz und ungetheilt vorhanden, so vollständig, wie in Allen, die je waren, sind und sein werden, zusammengenommen“), die Leugnung des Individuums („alle Löwen sind im Grunde nur Ein Löwe“, „die Vielheit der Individuen ist ein Schein“; sowie auch die Entwicklung nur ein Schein ist: — er nennt den Gedanken de Lamarck’s „einen genialen, absurden Irrthum“), die Schwärmerei vom Genie („in der ästhetischen Anschauung ist das Individuum nicht mehr Individuum, sondern reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subject der Erkenntniss“; „das Subject, indem es in dem angeschauten Gegenstande ganz aufgeht, ist dieser Gegenstand selbst geworden“), der Unsinn vom Mitleide und der in ihm ermöglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle aller Moralität, hinzugerechnet solche Behauptungen „das Sterben ist eigentlich der Zweck des Daseins“, „es lässt sich a priori nicht geradezu die Möglichkeit ableugnen, dass eine magische Wirkung nicht auch sollte von einem bereits Gestorbenen ausgehen können“: diese und ähnliche Ausschweifungen und Laster des Philosophen werden immer am ersten angenommen und zur Sache des Glaubens gemacht: — Laster und Ausschweifungen sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und wollen keine lange Vorübung. Doch reden wir von dem berühmtesten der lebenden Schopenhauerianer, von Richard Wagner. — Ihm ist es ergangen, wie es schon manchem Künstler ergangen ist: er vergriff sich in der Deutung der Gestalten, die er schuf, und verkannte die unausgesprochene Philosophie seiner eigensten Kunst. Richard Wagner hat sich bis in die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen lassen; er that das Selbe noch einmal, als er später Schopenhauer’s Lehre aus seinen Gestalten herauslas und mit „Wille“, „Genie“ und „Mitleid“ sich selber zu formuliren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: Nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer’s, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wagner’s: ich meine die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. „Das Alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir“ — würde vielleicht Schopenhauer sagen. So gute Gründe also Wagner hätte, sich gerade nach anderen Philosophen umzusehen als nach Schopenhauer: die Bezauberung, der er in Betreff dieses Denkers unterlegen ist, hat ihn nicht nur gegen alle anderen Philosophen, sondern sogar gegen die Wissenschaft selber blind gemacht; immer mehr will seine ganze Kunst sich als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen Philosophie geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den höheren Ehrgeiz, Seitenstück und Ergänzung der menschlichen Erkenntniss und Wissenschaft zu werden. Und nicht nur reizt ihn dazu der ganze geheimnissvolle Prunk dieser Philosophie, welche auch einen Cagliostro gereizt haben würde: auch die einzelnen Gebärden und die Affecte der Philosophen waren stets Verführer! Schopenhauerisch ist zum Beispiel Wagner’s Ereiferung über die Verderbniss der deutschen Sprache; und wenn man hierin die Nachahmung gut heissen sollte, so darf doch auch nicht verschwiegen werden, dass Wagner’s Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauern so wüthend machte, und dass, in Hinsicht auf die deutsch schreibenden Wagnerianer, die Wagnerei sich so gefährlich zu erweisen beginnt, als nur irgend eine Hegelei sich erwiesen hat. Schopenhauerisch ist Wagner’s Hass gegen die Juden, denen er selbst in ihrer grössten That nicht gerecht zu werden vermag: die Juden sind ja die Erfinder des Christenthums. Schopenhauerisch ist der Versuch Wagner’s, das Christenthum als ein verwehtes Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger Annäherung an katholisch-christliche Formeln und Empfindungen, ein buddhistisches Zeitalter vorzubereiten. Schopenhauerisch ist Wagner’s Predigt zu Gunsten der Barmherzigkeit im Verkehre mit Thieren; Schopenhauer’s Vorgänger hierin war bekanntlich Voltaire, der vielleicht auch schon, gleich seinen Nachfolgern, seinen Hass gegen gewisse Dinge und Menschen als Barmherzigkeit gegen Thiere zu verkleiden wusste. Wenigstens ist Wagner’s Hass gegen die Wissenschaft, der aus seiner Predigt spricht, gewiss nicht vom Geiste der Mildherzigkeit und Güte eingegeben — noch auch, wie es sich von selber versteht, vom Geiste überhaupt. — Zuletzt ist wenig an der Philosophie eines Künstlers gelegen, falls sie eben nur eine nachträgliche Philosophie ist und seiner Kunst selber keinen Schaden thut. Man kann sich nicht genug davor hüten, einem Künstler um einer gelegentlichen, vielleicht sehr unglücklichen und anmaasslichen Maskerade willen gram zu werden; vergessen wir doch nicht, dass die lieben Künstler sammt und sonders ein wenig Schauspieler sind und sein müssen und ohne Schauspielerei es schwerlich auf die Länge aushielten. Bleiben wir Wagnern in dem treu, was an ihm wahr und ursprünglich ist, — und namentlich dadurch, dass wir, seine Jünger, uns selber in dem treu bleiben, was an uns wahr und ursprünglich ist. Lassen wir ihm seine intellectuellen Launen und Krämpfe, erwägen wir vielmehr in Billigkeit, welche seltsamen Nahrungen und Nothdürfte eine Kunst, wie die seine, haben darf, um leben und wachsen zu können! Es liegt Nichts daran, dass er als Denker so oft Unrecht hat; Gerechtigkeit und Geduld sind nicht seine Sache. Genug, dass sein Leben vor sich selber Recht hat und Recht behält: — dieses Leben, welches Jedem von uns zuruft: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach, — sondern dir! Sondern dir!“ Auch unser Leben soll vor uns selber Recht behalten! Auch wir sollen frei und furchtlos, in unschuldiger Selbstigkeit aus uns selber wachsen und blühen! Und so klingen mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch heute noch, wie ehedem, diese Sätze an’s Ohr: „dass Leidenschaft besser ist, als Stoicismus und Heuchelei, dass Ehrlich-sein, selbst im Bösen, besser ist, als sich selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, dass der freie Mensch sowohl gut als böse sein kann, dass aber der unfreie Mensch eine Schande der Natur ist, und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Antheil hat; endlich dass Jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muss, und dass Niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schooss fällt“. (Richard Wagner in Bayreuth S. 94.)

100.

Huldigen lernen. — Auch das Huldigen müssen die Menschen lernen wie das Verachten. Jeder, der auf neuen Bahnen geht und Viele auf neue Bahnen geführt hat, entdeckt mit Staunen, wie ungeschickt und arm diese Vielen im Ausdruck ihrer Dankbarkeit sind, ja wie selten sich überhaupt auch nur die Dankbarkeit äussern kann. Es ist als ob ihr immer, wenn sie einmal reden will, Etwas in die Kehle komme, sodass sie sich nur räuspert und im Räuspern wieder verstummt. Die Art, wie ein Denker die Wirkung seiner Gedanken und ihre umbildende und erschütternde Gewalt zu spüren bekommt, ist beinahe eine Komödie; mitunter hat es das Ansehen, als ob Die, auf welche gewirkt worden ist, sich im Grunde dadurch beleidigt fühlten und ihre, wie sie fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur in allerlei Unarten zu äussern wüssten. Es bedarf ganzer Geschlechter, um auch nur eine höfliche Convention des Dankes zu erfinden: und erst sehr spät kommt jener Zeitpunct, wo selbst in die Dankbarkeit eine Art Geist und Genialität gefahren ist: dann ist gewöhnlich auch Einer da, welcher der grosse Dank-Empfänger ist, nicht nur für Das, was er selber Gutes gethan hat, sondern zumeist für Das, was von seinen Vorgängern als ein Schatz des Höchsten und Besten allmählich aufgehäuft worden ist.

101.

Voltaire. — Ueberall, wo es einen Hof gab, hat er das Gesetz des Gut-Sprechens und damit auch das Gesetz des Stils für alle Schreibenden gegeben. Die höfische Sprache ist aber die Sprache des Höflings, der kein Fach hat und der sich selbst in Gesprächen über wissenschaftliche Dinge alle bequemen technischen Ausdrücke verbietet, weil sie nach dem Fache schmecken, desshalb ist der technische Ausdruck und Alles, was den Specialisten verräth, in den Ländern einer höfischen Cultur ein Flecken des Stils. Man ist jetzt, wo alle Höfe Caricaturen von sonst und jetzt geworden sind, erstaunt, selbst Voltaire in diesem Puncte unsäglich spröde und peinlich zu finden (zum Beispiel in seinem Urtheil über solche Stilisten, wie Fontenelle und Montesquieu), — wir sind eben alle vom höfischen Geschmack emancipirt, während Voltaire dessen Vollender war!

102.

Ein Wort für die Philologen. — Dass es Bücher giebt, so werthvolle und königliche, dass ganze Gelehrten-Geschlechter gut verwendet sind, wenn durch ihre Mühe diese Bücher rein erhalten und verständlich erhalten werden, — diesen Glauben immer wieder zu befestigen ist die Philologie da. Sie setzt voraus, dass es an jenen seltenen Menschen nicht fehlt (wenn man sie gleich nicht sieht), die so werthvolle Bücher wirklich zu benutzen wissen: — es werden wohl die sein, welche selber solche Bücher machen oder machen könnten. Ich wollte sagen, die Philologie setzt einen vornehmen Glauben voraus, — dass zu Gunsten einiger Weniger, die immer „kommen werden“ und nicht da sind, eine sehr grosse Menge von peinlicher, selbst unsauberer Arbeit voraus abzuthun sei: es ist Alles Arbeit in usum Delphinorum.

103.

Von der deutschen Musik. — Die deutsche Musik ist jetzt schon desshalb, mehr als jede andere, die europäische Musik, weil in ihr allein die Veränderung, welche Europa durch die Revolution erfuhr, einen Ausdruck bekommen hat: nur die deutschen Musiker verstehen sich auf den Ausdruck bewegter Volksmassen, auf jenen ungeheuren künstlichen Lärm, der nicht einmal sehr laut zu sein braucht, — während zum Beispiel die italiänische Oper nur Chöre von Bedienten oder Soldaten kennt, aber kein „Volk“. Es kommt hinzu, dass aus aller deutschen Musik eine tiefe bürgerliche Eifersucht auf die noblesse herauszuhören ist, namentlich auf esprit und élégance, als den Ausdruck einer höfischen, ritterlichen, alten, ihrer selber sicheren Gesellschaft. Das ist keine Musik, wie die des Goethischen Sängers vor dem Thore, die auch „im Saale“, und zwar dem Könige wohlgefällt; da heisst es nicht: „die Ritter schauten muthig drein und in den Schooss die Schönen“. Schon die Grazie tritt nicht ohne Anwandelung von Gewissensbissen in der deutschen Musik auf; erst bei der Anmuth, der ländlichen Schwester der Grazie, fängt der Deutsche an, sich ganz moralisch zu fühlen — und von da an immer mehr bis hinauf zu seiner schwärmerischen, gelehrten, oft bärbeissigen „Erhabenheit“, der Beethoven’schen Erhabenheit. Will man sich den Menschen zu dieser Musik denken, nun, so denke man sich eben Beethoven, wie er neben Goethe, etwa bei jener Begegnung in Teplitz, erscheint: als die Halbbarbarei neben der Cultur, als Volk neben Adel, als der gutartige Mensch neben dem guten und mehr noch als „guten“ Menschen, als der Phantast neben dem Künstler, als der Trostbedürftige neben dem Getrösteten, als der Uebertreiber und Verdächtiger neben dem Billigen, als der Grillenfänger und Selbstquäler, als der Närrisch-Verzückte, der Selig-Unglückliche, der Treuherzig-Maasslose, als der Anmaassliche und Plumpe — und Alles in Allem als der „ungebändigte Mensch“: so empfand und bezeichnete ihn Goethe selber, Goethe der Ausnahme-Deutsche, zu dem eine ebenbürtige Musik noch nicht gefunden ist! — Zuletzt erwäge man noch, ob nicht jene jetzt immer mehr um sich greifende Verachtung der Melodie und Verkümmerung des melodischen Sinnes bei Deutschen als eine demokratische Unart und Nachwirkung der Revolution zu verstehen ist. Die Melodie hat nämlich eine solche offene Lust an der Gesetzlichkeit und einen solchen Widerwillen bei allem Werdenden, Ungeformten, Willkürlichen, dass sie wie ein Klang aus der alten Ordnung der europäischen Dinge und wie eine Verführung und Rückführung zu dieser klingt.

104.

Vom Klange der deutschen Sprache. — Man weiss, woher das Deutsch stammt, welches seit ein paar Jahrhunderten das allgemeine Schriftdeutsch ist. Die Deutschen, mit ihrer Ehrfurcht vor Allem, was vom Hofe kam, haben sich geflissentlich die Kanzleien zum Muster genommen, in Allem, was sie zu schreiben hatten, also namentlich in ihren Briefen, Urkunden, Testamenten und so weiter. Kanzleimässig schreiben, das war hof- und regierungsmässig schreiben, — das war etwas Vornehmes, gegen das Deutsch der Stadt gehalten, in der man gerade lebte. Allmählich zog man den Schluss und sprach auch so, wie man schrieb, — so wurde man noch vornehmer, in den Wortformen, in der Wahl der Worte und Wendungen und zuletzt auch im Klange: man affectirte einen höfischen Klang, wenn man sprach, und die Affectation wurde zuletzt Natur. Vielleicht hat sich etwas ganz Gleiches nirgendswo ereignet: die Uebergewalt des Schreibestils über die Rede und die Ziererei und Vornehmthuerei eines ganzen Volkes als Grundlage einer gemeinsamen nicht mehr dialektischen Sprache. Ich glaube, der Klang der deutschen Sprache war im Mittelalter, und namentlich nach dem Mittelalter, tief bäuerisch und gemein: er hat sich in den letzten Jahrhunderten etwas veredelt, hauptsächlich dadurch, dass man sich genöthigt fand, so viel französische, italiänische und spanische Klänge nachzuahmen und zwar gerade von Seiten des deutschen (und österreichischen) Adels, der mit der Muttersprache sich durchaus nicht begnügen konnte. Aber für Montaigne oder gar Racine muss trotz dieser Uebung Deutsch unerträglich gemein geklungen haben: und selbst jetzt klingt es, im Munde der Reisenden, mitten unter italiänischem Pöbel, noch immer sehr roh, wälderhaft, heiser, wie aus räucherigen Stuben und unhöflichen Gegenden stammend. — Nun bemerke ich, dass jetzt wieder unter den ehemaligen Bewunderern der Kanzleien ein ähnlicher Drang nach Vornehmheit des Klanges um sich greift, und dass die Deutschen einem ganz absonderlichen „Klangzauber“ sich zu fügen anfangen, der auf die Dauer eine wirkliche Gefahr für die deutsche Sprache werden könnte, — denn abscheulichere Klänge sucht man in Europa vergebens. Etwas Höhnisches, Kaltes, Gleichgültiges, Nachlässiges in der Stimme: das klingt jetzt den Deutschen „vornehm“ — und ich höre den guten Willen zu dieser Vornehmheit in den Stimmen der jungen Beamten, Lehrer, Frauen, Kaufleute; ja die kleinen Mädchen machen schon dieses Offizierdeutsch nach. Denn der Offizier, und zwar der preussische, ist der Erfinder dieser Klänge: dieser selbe Offizier, der als Militär und Mann des Fachs jenen bewunderungswürdigen Tact der Bescheidenheit besitzt, an dem die Deutschen allesammt zu lernen hätten (die deutschen Professoren und Musicanten eingerechnet!). Aber sobald er spricht und sich bewegt, ist er die unbescheidenste und geschmackwidrigste Figur im alten Europa — sich selber unbewusst, ohne allen Zweifel! Und auch den guten Deutschen unbewusst, die in ihm den Mann der ersten und vornehmsten Gesellschaft anstaunen und sich gerne „den Ton von ihm angeben“ lassen. Das thut er denn auch! — und zunächst sind es die Feldwebel und Unteroffiziere, welche seinen Ton nachahmen und vergröbern. Man gebe Acht auf die Commandorufe, von denen die deutschen Städte förmlich umbrüllt werden, jetzt wo man vor allen Thoren exerciert: welche Anmaassung, welches wüthende Autoritätsgefühl, welche höhnische Kälte klingt aus diesem Gebrüll heraus! Sollten die Deutschen wirklich ein musicalisches Volk sein? — Sicher ist, dass die Deutschen sich jetzt im Klange ihrer Sprache militarisiren: wahrscheinlich ist, dass sie, eingeübt militärisch zu sprechen, endlich auch militärisch schreiben werden. Denn die Gewohnheit an bestimmte Klänge greift tief in den Charakter: — man hat bald die Worte und Wendungen und schliesslich auch die Gedanken, welche eben zu diesem Klange passen! Vielleicht schreibt man jetzt schon offiziermäßig; vielleicht lese ich nur zu wenig von dem, was man jetzt in Deutschland schreibt. Aber Eines weiss ich um so sicherer: die öffentlichen deutschen Kundgebungen, die auch in’s Ausland dringen, sind nicht von der deutschen Musik inspirirt, sondern von eben jenem neuen Klange einer geschmackwidrigen Anmaassung. Fast in jeder Rede des ersten deutschen Staatsmannes und selbst dann, wenn er sich durch sein kaiserliches Sprachrohr vernehmen lässt, ist ein Accent, den das Ohr eines Ausländers mit Widerwillen zurückweist: aber die Deutschen ertragen ihn, — sie ertragen sich selber.

105.

Die Deutschen als Künstler. — Wenn der Deutsche einmal wirklich in Leidenschaft geräth (und nicht nur, wie gewöhnlich, in den guten Willen zur Leidenschaft!), so benimmt er sich dann in derselben, wie er eben muss, und denkt nicht weiter an sein Benehmen. Die Wahrheit aber ist, dass er sich dann sehr ungeschickt und hässlich und wie ohne Tact und Melodie benimmt, sodass die Zuschauer ihre Pein oder ihre Rührung dabei haben und nicht mehr: — es sei denn, dass er sich in das Erhabene und Entzückte hinaufhebt, dessen manche Passionen fähig sind. Dann wird sogar der Deutsche schön! Die Ahnung davon, auf welcher Höhe erst die Schönheit ihren Zauber selbst über Deutsche ausgiesst, treibt die deutschen Künstler in die Höhe und Ueberhöhe und in die Ausschweifungen der Leidenschaft: ein wirkliches tiefes Verlangen also, über die Hässlichkeit und Ungeschicktheit hinauszukommen, mindestens hinauszublicken — hin nach einer besseren, leichteren, südlicheren, sonnenhafteren Welt. Und so sind ihre Krämpfe oftmals nur Anzeichen dafür, dass sie tanzen möchten: diese armen Bären, in denen versteckte Nymphen und Waldgötter ihr Wesen treiben — und mitunter noch höhere Gottheiten!

106.

Musik als Fürsprecherin. — „Ich habe Durst nach einem Meister der Tonkunst, sagte ein Neuerer zu seinem Jünger, dass er mir meine Gedanken ablerne und sie fürderhin in seiner Sprache rede: so werde ich den Menschen besser zu Ohr und Herzen dringen. Mit Tönen kann man die Menschen zu jedem Irrthume und jeder Wahrheit verführen: wer vermöchte einen Ton zu widerlegen?“ — „Also möchtest du für unwiderlegbar gelten?“ sagte sein Jünger. Der Neuerer erwiderte: „Ich möchte, dass der Keim zum Baume werde. Damit eine Lehre zum Baume werde, muss sie eine gute Zeit geglaubt werden: damit sie geglaubt werde, muss sie für unwiderlegbar gelten. Dem Baume thun Stürme, Zweifel, Gewürm, Bosheit noth, damit er die Art und Kraft seines Keimes offenbar mache; mag er brechen, wenn er nicht stark genug ist! Aber ein Keim wird immer nur vernichtet, — nicht widerlegt!“ — Als er das gesagt hatte, rief sein Jünger mit Ungestüm: „Aber ich glaube an deine Sache und halte sie für so stark, dass ich Alles, Alles sagen werde, was ich noch gegen sie auf dem Herzen habe“. — Der Neuerer lachte bei sich und drohte ihm mit dem Finger. „Diese Art Jüngerschaft, sagte er dann, ist die beste, aber sie ist gefährlich und nicht jede Art Lehre verträgt sie“.

107.

Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst. — Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird — die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins —, gar nicht auszuhalten. Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine. Wir verwehren es unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten: und dann ist es nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluss des Werdens tragen — dann meinen wir, eine Göttin zu tragen und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können. Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die Schelmenkappe: wir brauchen sie vor uns selber — wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Dingen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert. Es wäre ein Rückfall für uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlichkeit ganz in die Moral zu gerathen und um der überstrengen Anforderungen willen, die wir hierin an uns stellen, gar noch selber zu tugendhaften Ungeheuern und Vogelscheuchen zu werden. Wir sollen auch über der Moral stehen können: und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines Solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen! Wie könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren entbehren? — Und so lange ihr euch noch irgendwie vor euch selber schämt, gehört ihr noch nicht zu uns!