Drittes Buch.
149.
Kleine abweichende Handlungen thun noth! — In den Angelegenheiten der Sitte auch einmal wider seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie Alle und damit Allen eine Artigkeit und Wohlthat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für das Abweichende unserer Meinungen: — das gilt bei vielen leidlich freigesinnten Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als „honett“, „human“, „tolerant“, „nicht pedantisch“, und wie die schönen Worte lauten mögen, mit denen das intellectuelle Gewissen in Schlaf gesungen wird: und so bringt Dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei Atheist, und Jener thut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhass verdammt, und ein Dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne sich zu schämen. „Es ist nicht wesentlich, wenn Unsereiner auch thut, was Alle immerdar thun und gethan haben“ — so klingt das grobe Vorurtheil! Der grobe Irrthum! Denn es giebt nichts Wesentlicheres, als wenn das bereits Mächtige, Altherkömmliche und vernunftlos Anerkannte durch die Handlung eines anerkannt Vernünftigen noch einmal bestätigt wird: damit erhält es in den Augen Aller, die davon hören, die Sanction der Vernunft selber! Alle Achtung vor eueren Meinungen! Aber kleine abweichende Handlungen sind mehr werth!
150.
Der Zufall der Ehen. — Wäre ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott, so würden mich die Ehen der Menschen mehr als alles Andere ungeduldig machen. Weit, weit kann ein Einzelner vorwärts kommen, in seinen siebenzig, ja in seinen dreissig Jahren, — es ist zum Erstaunen, selbst für Götter! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermächtniss dieses Ringens und Siegens, den Lorber seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort aufhängt, wo ihn ein Weiblein zerpflückt; sieht man, wie gut er zu erringen, wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, dass er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten könne: so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich „es kann aus der Menschheit auf die Dauer Nichts werden, die Einzelnen werden verschwendet, der Zufall der Ehen macht alle Vernunft eines grossen Ganges der Menschheit unmöglich; — hören wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels ohne Ziel zu sein!“ — In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Götter Epikur’s in ihre göttliche Stille und Seligkeit zurück: sie waren der Menschen und ihrer Liebeshändel müde.
151.
Hier sind neue Ideale zu erfinden. — Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande der Verliebtheit einen Entschluss über sein Leben zu fassen und einer heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein für allemal festzusetzen: man sollte die Schwüre der Liebenden öffentlich für ungültig erklären und ihnen die Ehe verweigern: — und zwar, weil man die Ehe unsäglich wichtiger nehmen sollte! so dass sie in solchen Fällen, wo sie bisher zu Stande kam, für gewöhnlich gerade nicht zu Stande käme! Sind nicht die meisten Ehen der Art, dass man keinen Dritten als Zeugen wünscht? Und gerade dieser Dritte fehlt fast nie — das Kind — und ist mehr als ein Zeuge, nämlich der Sündenbock!
152.
Eidformel. — „Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch mehr, und Jeder soll es mir in’s Gesicht sagen dürfen.“ — Diese Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der üblichen Anrufung Gottes dabei: sie ist stärker. Auch der Fromme hat keinen Grund, sich ihr zu widersetzen: sobald nämlich der bisherige Eid nicht mehr hinreichend nützt, muss der Fromme auf seinen Katechismus hören, welcher vorschreibt „du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht unnützlich führen!“
153.
Ein Unzufriedener. — Das ist einer jener alten Tapferen: er ärgert sich über die Civilisation, weil er meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge, Ehren, Schätze, schöne Weiber, — auch den Feigen zugänglich zu machen.
154.
Trost der Gefährdeten. — Die Griechen, in einem Leben, welches grossen Gefahren und Umstürzen sehr nahe stand, suchten im Nachdenken und Erkennen eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes refugium. Wir, in einem unvergleichlich sichreren Zustande, haben die Gefährlichkeit in’s Nachdenken und Erkennen getragen, und erholen und beruhigen uns von ihr am Leben.
155.
Erloschene Skepsis. — Kühne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener, als in der alten und mittelalterlichen, — wahrscheinlich desshalb, weil die neue Zeit nicht mehr den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das heisst: wir sind dazu unfähig geworden, an eine uns bestimmte Zukunft zu glauben, so wie die Alten glaubten, welche — anders, als wir — in Beziehung auf Das, was kommt, viel weniger Skeptiker waren, als in Beziehung auf Das, was da ist.
156.
Aus Übermuth böse. — „Dass wir uns nur nicht zu wohl fühlen!“ — das war die heimliche Herzensangst der Griechen in der guten Zeit. Desshalb predigten sie sich das Maass. Und wir!
157.
Cultus der „Naturlaute“. — Wohin weist es, dass unsere Cultur gegen die Aeusserungen des Schmerzes, gegen Thränen, Klagen, Vorwürfe, Gebärden der Wuth oder der Demüthigung, nicht nur geduldig ist, dass sie dieselben gut heisst und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet? — während der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah und ihnen durchaus keine Nothwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie Plato — das heisst: keiner von den unmenschlichsten Philosophen — von dem Philoktet der tragischen Bühne redet. Sollte unsrer modernen Cultur vielleicht „die Philosophie“ fehlen? Sollten wir, nach der Abschätzung jener alten Philosophen, vielleicht sammt und sonders zum „Pöbel“ gehören?
158.
Clima des Schmeichlers. — Die hündischen Schmeichler muss man jetzt nicht mehr in der Nähe der Fürsten suchen, — diese haben alle den militärischen Geschmack, und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der Nähe der Banquiers und Künstler wächst jene Blume auch jetzt noch.
159.
Die Todtenerwecker. — Eitle Menschen schätzen ein Stück Vergangenheit von dem Augenblick an höher, von dem an sie es nachzuempfinden vermögen (zumal wenn diess schwierig ist), ja sie wollen es womöglich jetzt wieder von den Todten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der That nicht gering: es wird zu viel Kraft an alle möglichen Todten-Erweckungen weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten aus diesem Gesichtspuncte.
160.
Eitel, begehrlich und wenig weise. — Eure Begierden sind grösser, als euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch grösser, als eure Begierden, — solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus recht viel christliche Praxis und dazu ein Wenig Schopenhauerische Theorie anzurathen!
161.
Schönheit gemäss dem Zeitalter. — Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so müssen sie die Schönheit gedunsen, riesenhaft und nervös bilden: so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maasses, die Schönheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich hässlich nennen! Aber die albernen „Classicisten“ haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht!
162.
Die Ironie der Gegenwärtigen. — Augenblicklich ist es Europäer-Art, alle grossen Interessen mit Ironie zu behandeln, weil man vor Geschäftigkeit in ihrem Dienste keine Zeit hat, sie ernst zu nehmen.
163.
Gegen Rousseau. — Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbärmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschliessen „diese erbärmliche Civilisation ist Schuld an unserer schlechten Moralität“ oder gegen Rousseau zurückzuschliessen „unsere gute Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Civilisation. Unsere schwachen, unmännlichen gesellschaftlichen Begriffe von gut und böse und die ungeheuere Überherrschaft derselben über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer starken Civilisation, zerbrochen: wo man der schlechten Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser Pfeiler.“ So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von beiden? Man prüfe.
164.
Vielleicht verfrüht. — Gegenwärtig scheint es so, dass unter allerhand falschen irreführenden Namen und zumeist in grosser Unklarheit von Seiten Derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren und damit sich ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten. Diess sollte man im Ganzen und Grossen billig und gut finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und Jedem das Gewehr um die Schulter hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, dass es keine allein-moralisch-machende Moral giebt und dass jede ausschliesslich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tödtet und der Menschheit zu theuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheuere Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden, — diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden!
165.
Welche Moral nicht langweilt. — Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich immer wieder lehren und vorpredigen lässt, stehen in Beziehung zu seinen Hauptfehlern, und desshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen die Mässigung, der kalte Muth, der gerechte Sinn und überhaupt die Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier sokratischen Tugenden, — denn man hatte sie so nöthig und doch gerade für sie so wenig Talent!
166.
Am Scheidewege. — Pfui! ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muss, voll und ganz, oder unter die Räder geräth! wo es sich von selber versteht, dass Jeder Das ist, wozu er von Oben her gemacht wird! Wo das Suchen nach „Connexion“ zu den natürlichen Pflichten gehört! wo Keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam gemacht wird „er kann Ihnen einmal nützen“; wo man sich nicht schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten! wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferwaare der Natur bezeichnet hat, welche Andere verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür verantwortlich zu fühlen; gleich als ob man sagte: „an solcher Art, wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstände!“ —
167.
Die unbedingten Huldigungen. — Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehörtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke, so muss ich mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der unbedingten Gefühle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen grossen Männern. Es giebt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen: jedesmal einen Strom, in seinem eigenen, selbstgegrabenen Strombette, und so mächtig bewegt, dass es öfter scheinen könnte, als wollte er den Berg hinaufströmen. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben möge: wer möchte nicht gern anderer Meinung sein, als Schopenhauer, im Ganzen und Grossen! — Und wer könnte jetzt Einer Meinung mit Richard Wagner sein, im Ganzen und im Kleinen? so wahr es auch sein mag, was Jemand gesagt hat, dass überall, wo er Anstoss nimmt und wo er Anstoss giebt, ein Problem vergraben liegt, — genug, er selber bringt es nicht an das Licht. — Und endlich, wie Viele möchten von ganzem Herzen mit Bismarck Einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich Einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es fürderhin zu sein! Zwar: ohne Grundsätze, aber mit Grundtrieben, ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben desshalb ohne Grundsätze, — das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben, vielmehr als das Rechte und Naturgemässe gelten; aber leider war es bisher so durchaus nicht deutsch! ebenso wenig, als Lärm um Musik, und Missklang und Missmuth um den Musiker, ebenso wenig, als die neue und ausserordentliche Stellung, welche Schopenhauer wählte: nämlich weder über den Dingen, noch auf den Knieen vor den Dingen — beides hätte noch deutsch heissen können —, sondern gegen die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich in Eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guterletzt gar als der Gegner seiner selber! — was kann der unbedingte Verehrer mit einem solchen Vorbilde anfangen! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern, die unter einander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagner’s, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarck’s, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu thun! Wohin sich mit seinem Durste nach der „Huldigung in Bausch und Bogen“ flüchten! Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Tacte guter Musik auslesen, die sich Einem an’s Herz legen und denen man sich gern an’s Herz legt, weil sie ein Herz haben, — könnte man mit diesem kleinen Raub bei Seite gehen und den ganzen Rest — vergessen? Und ein eben solches Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen, — auslesen, sich an’s Herz legen und namentlich den Rest vergessen? Ja, wenn nur das Vergessen nicht so schwer wäre! Da gab es einen sehr stolzen Menschen, der durchaus nur von sich selber Etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als er aber das Vergessen nöthig hatte, konnte er es sich selber nicht geben, sondern musste dreimal die Geister beschwören; sie kamen, sie hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie: „nur diess gerade steht nicht in unserer Macht!“ Sollten die Deutschen sich die Erfahrung Manfred’s nicht zu Nutze machen? Warum erst noch die Geister beschwören! Es ist unnütz, man vergisst nicht, wenn man vergessen will. Und wie gross wäre „der Rest“, den man hier, von diesen drei Grössen der Zeit, vergessen müsste, um fürderhin ihr Verehrer in Bausch und Bogen sein zu können! Da ist es doch räthlicher, die gute Gelegenheit zu benutzen und etwas Neues zu versuchen: nämlich in der Redlichkeit gegen sich selber zuzunehmen und aus einem Volke des gläubigen Nachsprechens und der bitterbösen blinden Feindseligkeit ein Volk der bedingten Zustimmung und der wohlwollenden Gegnerschaft zu werden; zunächst aber zu lernen, dass unbedingte Huldigungen vor Personen etwas Lächerliches sind, dass hierin Umlernen auch für Deutsche nicht unrühmlich ist, und dass es einen tiefen, beherzigenswerthen Spruch giebt: „Ce qui importe, ce ne sont point les personnes: mais les choses.“ Dieser Spruch ist wie Der, welcher ihn sprach, gross, brav, einfach und schweigsam, — ganz wie Carnot, der Soldat und der Republicaner. — Aber darf man jetzt so von einem Franzosen zu Deutschen sprechen, noch dazu von einem Republicaner? Vielleicht nicht; ja, vielleicht darf man nicht einmal daran erinnern, was Niebuhr seiner Zeit den Deutschen sagen durfte: Niemand habe ihm so sehr den Eindruck der wahren Grösse gegeben, als Carnot.
168.
Ein Vorbild. — Was liebe ich an Thukydides, was macht, dass ich ihn höher ehre, als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, dass zu jedem Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu entdecken. Er hat eine grössere praktische Gerechtigkeit, als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe gethan haben. Im Gegentheil: er sieht etwas Grosses in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht; was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen, was nicht typisch wäre! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene Cultur der unbefangensten Weltkenntniss zu einem letzten herrlichen Ausblühen, welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Cultur, welche auf den Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, getauft zu werden verdient und leider von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blass und unfassbar zu werden beginnt, — denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr unsittliche Cultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen Schulen kämpfte! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, dass es Widerwillen macht, sie aufzudröseln: so laufe der alte Irrthum (error veritate simplicior) seinen alten Weg!
169.
Das Griechische uns sehr fremd. — Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europäisch: im Verhältniss zum Griechischen ist diesem Allem die Massenhaftigkeit und der Genuss an der grossen Quantität als der Sprache des Erhabenen zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und Athen und vor der ganzen griechischen Architektur so erstaunt darüber wird, mit wie kleinen Massen die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen lieben. — Ebenfalls: wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber in ihrer Vorstellung! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntniss! Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsere Vorstellungen von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) — so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende Musik lässt es schon errathen! (In der Musik nämlich lassen sich die Menschen gehen, weil sie wähnen, es sei Niemand da, der sie selber unter ihrer Musik zu sehen vermöge.)
170.
Andere Perspective des Gefühles. — Was ist unser Geschwätz von den Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele — die Leidenschaft für die männliche nackte Schönheit ist! — Erst von da aus empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine völlig andere Perspective, als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders.
171.
Die Ernährung des modernen Menschen. — Er versteht Vieles, ja fast Alles zu verdauen, — es ist seine Art Ehrgeiz: aber er würde höherer Ordnung sein, wenn er diess gerade nicht verstünde; homo pamphagus ist nicht die feinste Species. Wir leben zwischen einer Vergangenheit, die einen verrückteren und eigensinnigeren Geschmack hatte, als wir, und einer Zukunft, die vielleicht einen gewählteren haben wird, — wir leben zu sehr in der Mitte.
172.
Tragödie und Musik. — Männer in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemüths, wie zum Beispiel die Griechen in der Zeit des Äschylus, sind schwer zu rühren, und wenn das Mitleiden einmal über ihre Härte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer „dämonischen Gewalt“, — sie fühlen sich dann unfrei und von einem religiösen Schauder erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand; so lange sie in ihm sind, geniessen sie das Entzücken des Ausser-sich-seins und des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermuth des Leidens: es ist das so recht ein Getränk für Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und Bittersüsses, das Einem nicht leicht zu Theil wird. — An Seelen, die so das Mitleiden empfinden, wendet sich die Tragödie, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nütze ist, von Zeit zu Zeit erweicht zu werden: aber was soll die Tragödie Denen, welche den „sympathischen Affectionen“ offen stehen wie die Segel den Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer geworden waren, zur Zeit Plato’s, — ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit unserer Gross- und Kleinstädter! — aber doch klagten schon die Philosophen über die Schädlichkeit der Tragödie. Ein Zeitalter voller Gefahren, wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit im Preise steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen wieder so hart machen, dass tragische Dichter ihnen noth thun: einstweilen aber waren diese ein Wenig überflüssig, — um das mildeste Wort zu gebrauchen. — So kommt vielleicht auch für die Musik noch einmal das bessere Zeitalter (gewiss wird es das bösere sein!), dann, wenn die Künstler sich mit ihr an streng persönliche, in sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden haben: aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersönlichen, neugierigen und nach Allem lüsternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters?
173.
Die Lobredner der Arbeit. — Bei der Verherrlichung der „Arbeit“, bei dem unermüdlichen Reden vom „Segen der Arbeit“ sehe ich den selben Hintergedanken, wie bei dem Lobe der gemeinnützigen unpersönlichen Handlungen: den der Furcht vor allem Individuellen. Im Grunde fühlt man jetzt, beim Anblick der Arbeit — man meint immer dabei jene harte Arbeitsamkeit von früh bis spät —, dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie Jeden im Zaume hält und die Entwickelung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht ausserordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen, sie stellt ein kleines Ziel immer in’s Auge und gewährt leichte und regelmässige Befriedigungen. So wird eine Gesellschaft, in welcher fortwährend hart gearbeitet wird, mehr Sicherheit haben: und die Sicherheit betet man jetzt als die oberste Gottheit an. — Und nun! Entsetzen! Gerade der „Arbeiter“ ist gefährlich geworden! Es wimmelt von „gefährlichen Individuen“! Und hinter ihnen die Gefahr der Gefahren — das individuum!
174.
Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. — Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode: „moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für Andere“ sehe ich einen socialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellectuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, dass dem Leben alle Gefährlichkeit genommen werde, welche es früher hatte und dass daran Jeder und mit allen Kräften helfen solle: desshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädicat „gut“ bekommen! — Wie wenig Freude müssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden Nothstand, für jedes Leiden anderwärts Luchs-Augen zu haben! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen Affectionen? — Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem Anderen mehr nützt, indem man ihm unmittelbar fortwährend beispringt und hilft — was doch nur sehr oberflächlich geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen Übergreifen und Umbilden wird — oder indem man aus sich selber Etwas formt, was der Andere mit Genuss sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstrassen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat.
175.
Grundgedanke einer Cultur der Handeltreibenden. — Man sieht jetzt mehrfach die Cultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebenso sehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die älteren Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht Alles zu taxiren, ohne es zu machen, und zwar zu taxiren nach dem Bedürfnisse der Consumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse; „wer und wie Viele consumiren diess?“ ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinctiv und immerwährend an: auf Alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei Allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, um für sich den Werth einer Sache festzusetzen. Diess zum Charakter einer ganzen Cultur gemacht, bis in’s Unbegränzte und Feinste durchgedacht und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden Classe Recht haben, dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben an diese Propheten. Credat Judaeus Apella — mit Horaz zu reden.
176.
Die Kritik über die Väter. — Warum verträgt man jetzt die Wahrheit schon über die jüngste Vergangenheit? Weil immer schon eine neue Generation da ist, die sich im Gegensatz zu dieser Vergangenheit fühlt und die Erstlinge des Gefühles der Macht in dieser Kritik geniesst. Ehemals wollte umgekehrt die neue Generation sich auf die ältere gründen, und sie begann sich zu fühlen, indem sie die Ansichten der Väter nicht nur annahm, sondern womöglich strenger nahm. Die Kritik über die Väter war damals lasterhaft: jetzt beginnen die jüngeren Idealisten damit.
177.
Einsamkeit lernen. — Oh, ihr armen Schelme in den grossen Städten der Weltpolitik, ihr jungen, begabten, vom Ehrgeiz gemarterten Männer, welche es für ihre Pflicht halten, zu allen Begebenheiten — es begiebt sich immer Etwas — ihr Wort zu sagen! Welche, wenn sie auf diese Art Staub und Lärm machen, glauben, der Wagen der Geschichte zu sein! Welche, weil sie immer horchen, immer auf den Augenblick passen, wo sie ihr Wort hineinwerfen können, jede ächte Productivität verlieren! Mögen sie auch noch so begehrlich nach grossen Werken sein: die tiefe Schweigsamkeit der Schwangerschaft kommt nie zu ihnen! Das Ereigniss des Tages jagt sie wie Spreu vor sich her, während sie meinen, das Ereigniss zu jagen, — die armen Schelme! — Wenn man einen Helden auf der Bühne abgeben will, darf man nicht daran denken, Chorus zu machen, ja, man darf nicht einmal wissen, wie man Chorus macht.
178.
Die Täglich-Abgenützten. — Diesen jungen Männern fehlt es weder an Charakter, noch an Begabung, noch an Fleiss: aber man hat ihnen nie Zeit gelassen, sich selber eine Richtung zu geben, vielmehr sie von Kindesbeinen an gewöhnt, eine Richtung zu empfangen. Damals, als sie reif genug waren, um „in die Wüste geschickt zu werden“, that man etwas Anderes, — man benutzte sie, man entwendete sie sich selber, man erzog sie zu dem täglichen Abgenutztwerden, man machte ihnen eine Pflichtenlehre daraus — und jetzt können sie es nicht mehr entbehren und wollen es nicht anders. Nur darf man diesen armen Zugthieren ihre „Ferien“ nicht versagen — wie man es nennt, diess Musse-Ideal eines überarbeiteten Jahrhunderts: wo man einmal nach Herzenslust faulenzen und blödsinnig und kindisch sein darf.
179.
So wenig als möglich Staat! — Alle politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer, als ein Nothstand. Es sind und bleiben Gebiete der Arbeit für die geringeren Köpfe, und andere als die geringen Köpfe sollten dieser Werkstätte nicht zu Diensten stehen: möge lieber die Maschine wieder einmal in Stücke gehen! So wie es aber jetzt steht, wo nicht nur Alle täglich darum glauben wissen zu müssen, sondern auch Jedermann alle Augenblicke dafür thätig sein will und seine eigene Arbeit darüber im Stiche lässt, ist es ein grosser und lächerlicher Wahnsinn. Man bezahlt die „allgemeine Sicherheit“ viel zu theuer um diesen Preis: und, was das Tollste ist, man bringt überdiess das Gegentheil der allgemeinen Sicherheit damit hervor, wie unser liebes Jahrhundert zu beweisen unternimmt: als ob es noch nie bewiesen wäre! Die Gesellschaft diebessicher und feuerfest und unendlich bequem für jeden Handel und Wandel zu machen und den Staat zur Vorsehung im guten und schlimmen Sinne umzuwandeln, — diess sind niedere, mässige und nicht durchaus unentbehrliche Ziele, welche man nicht mit den höchsten Mitteln und Werkzeugen erstreben sollte, die es überhaupt giebt, — den Mitteln, die man eben für die höchsten und seltensten Zwecke sich aufzusparen hätte! Unser Zeitalter, so viel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist.
180.
Die Kriege. — Die grossen Kriege der Gegenwart sind die Wirkungen des historischen Studiums.
181.
Regieren. — Die Einen regieren, aus Lust am Regieren; die Andern, um nicht regiert zu werden: — Diesen ist es nur das geringere von zwei Übeln.
182.
Die grobe Consequenz. — Man sagt mit grosser Auszeichnung: „das ist ein Charakter!“ — ja! wenn er grobe Consequenz zeigt, wenn die Consequenz auch dem stumpfen Auge einleuchtet! Aber sobald ein feinerer und tieferer Geist waltet und auf seine höhere Weise folgerichtig ist, leugnen die Zuschauer das Vorhandensein des Charakters. Desshalb spielen verschlagene Staatsmänner ihre Komödie gewöhnlich hinter einem Deckmantel der groben Consequenz.
183.
Die Alten und die Jungen. — „Es ist etwas Unmoralisches an den Parlamenten — so denkt Der und Jener immer noch —, denn man darf da auch Ansichten gegen die Regierung haben!“ — „Man muss immer die Ansicht von der Sache haben, welche der gnädige Herr befiehlt“ — das ist das elfte Gebot in manchem braven alten Kopfe, namentlich im nördlichen Deutschland. Man lacht darüber wie über eine veraltete Mode: aber ehemals war es die Moral! Vielleicht, dass man auch wieder einmal über Das lacht, was jetzt, unter dem parlamentarisch erzogenen jüngeren Geschlechte als moralisch gilt: nämlich die Politik der Partei über die eigne Weisheit zu stellen und jede Frage des öffentlichen Wohles so zu beantworten, wie es gerade guten Wind für die Segel der Partei macht. „Man muss die Ansicht von der Sache haben, welche die Situation der Partei erheischt“ — so würde der Kanon lauten. Im Dienste einer solchen Moral giebt es jetzt jede Art von Opfer, Selbstüberwindung und Martyrium.
184.
Der Staat als Erzeugniss der Anarchisten. — In den Ländern der gebändigten Menschen giebt es immer noch genug von den rückständigen und ungebändigten: augenblicklich sammeln sie sich in den socialistischen Lagern mehr als irgendwo anders. Sollte es dazu kommen, dass diese einmal Gesetze geben, so kann man darauf rechnen, dass sie sich an eine eiserne Kette legen und furchtbare Disciplin üben werden: — sie kennen sich! Und sie werden diese Gesetze aushalten, im Bewusstsein, dass sie selber dieselben gegeben haben, — das Gefühl der Macht, und dieser Macht, ist zu jung und entzückend für sie, als dass sie nicht Alles um seinetwillen litten.
185.
Bettler. — Man soll die Bettler abschaffen: denn man ärgert sich, ihnen zu geben, und ärgert sich, ihnen nicht zu geben.
186.
Geschäftsleute. — Euer Geschäft — das ist euer grösstes Vorurtheil, es bindet euch an euren Ort, an eure Gesellschaft, an eure Neigungen. Im Geschäft fleissig, — aber im Geiste faul, mit eurer Dürftigkeit zufrieden und die Schürze der Pflicht über diese Zufriedenheit gehängt: so lebt ihr, so wollt ihr eure Kinder!
187.
Aus einer möglichen Zukunft. — Ist ein Zustand undenkbar, wo der Übelthäter sich selber zur Anzeige bringt, sich selber seine Strafe öffentlich dictirt, im stolzen Gefühle, dass er so das Gesetz ehrt, das er selber gemacht hat, dass er seine Macht ausübt, indem er sich straft, die Macht des Gesetzgebers; er kann sich einmal vergehen, aber er erhebt sich durch die freiwillige Strafe über sein Vergehen, er wischt das Vergehen durch Freimüthigkeit, Grösse und Ruhe nicht nur aus: er thut eine öffentliche Wohlthat hinzu. — Diess wäre der Verbrecher einer möglichen Zukunft, welcher freilich auch eine Gesetzgebung der Zukunft voraussetzt, des Grundgedankens: „ich beuge mich nur dem Gesetze, welches ich selber gegeben habe, im Kleinen und Grossen.“ Es müssen so viele Versuche noch gemacht werden! Es muss so manche Zukunft noch an’s Licht kommen!
188.
Rausch und Ernährung. — Die Völker werden so sehr betrogen, weil sie immer einen Betrüger suchen, nämlich einen aufregenden Wein für ihre Sinne. Wenn sie nur den haben können, dann nehmen sie wohl mit schlechtem Brode fürlieb. Der Rausch gilt ihnen mehr, als die Nahrung, — hier ist der Köder, an dem sie immer anbeissen werden! Was sind ihnen Männer, aus ihrer Mitte gewählt — und seien es die sachkundigsten Praktiker — gegen glänzende Eroberer, oder alte prunkhafte Fürstenhäuser! Mindestens muss der Volksmann ihnen Eroberungen und Prunk in Aussicht stellen: so findet er vielleicht Glauben. Sie gehorchen immer, und thun noch mehr, als gehorchen, vorausgesetzt, dass sie sich dabei berauschen können! Man darf ihnen selbst die Ruhe und das Vergnügen nicht anbieten, ohne den Lorberkranz und seine verrückt machende Kraft darin. Dieser pöbelhafte Geschmack, welcher den Rausch wichtiger nimmt, als die Ernährung, ist aber keineswegs in der Tiefe des Pöbels entstanden: er ist vielmehr dorthin getragen, dorthin verpflanzt und dort nur noch am meisten rückständig und üppig aufschiessend, während er von den höchsten Intelligenzen her seinen Ursprung nimmt und Jahrtausende lang in ihnen geblüht hat. Das Volk ist der letzte wilde Boden, auf dem dieses glänzende Unkraut noch gedeihen kann. — Wie! Und ihm gerade sollte man die Politik anvertrauen? Damit es sich aus ihr seinen täglichen Rausch mache?
189.
Von der grossen Politik. — Soviel auch der Nutzen und die Eitelkeit, von Einzelnen wie von Völkern, in der grossen Politik mitwirken mögen: das gewaltigste Wasser, das sie vorwärts treibt, ist das Bedürfniss des Machtgefühls, welches nicht nur in den Seelen der Fürsten und Mächtigen, sondern nicht zum geringsten Theil gerade in den niederen Schichten des Volkes aus unversieglichen Quellen von Zeit zu Zeit hervorstösst. Es kommt immer wieder die Stunde, wo die Masse ihr Leben, ihr Vermögen, ihr Gewissen, ihre Tugend daranzusetzen bereit ist, um jenen ihren höchsten Genuss sich zu schaffen und als siegreiche, tyrannisch willkürliche Nation über andere Nationen zu schalten (oder sich schaltend zu denken). Da quellen die verschwenderischen, aufopfernden, hoffenden, vertrauenden, überverwegenen, phantastischen Gefühle so reichlich herauf, dass der ehrgeizige oder klug vorsorgende Fürst einen Krieg vom Zaune brechen und das gute Gewissen des Volkes seinem Unrecht unterschieben kann. Die grossen Eroberer haben immer die pathetische Sprache der Tugend im Munde geführt: sie hatten immer Massen um sich, welche sich im Zustande der Erhebung befanden und nur die erhobenste Sprache hören wollten. Wunderliche Tollheit der moralischen Urtheile! Wenn der Mensch im Gefühle der Macht ist, so fühlt und nennt er sich gut: und gerade dann fühlen und nennen ihn die Anderen, an denen er seine Macht auslassen muss, böse! — Hesiod hat in der Fabel von den Menschenaltern das selbe Zeitalter, das der homerischen Helden, zweimal hinter einander gemalt und zwei aus einem gemacht: von Denen aus gesehen, welche unter dem ehernen, entsetzlichen Druck dieser abenteuernden Gewaltmenschen standen oder durch ihre Vorfahren davon wussten, erschien es böse: aber die Nachkommen dieser ritterlichen Geschlechter verehrten in ihm eine gute alte, selig-halbselige Zeit. Da wusste sich der Dichter nicht anders zu helfen, als er gethan hat, — er hatte wohl Zuhörer beider Gattungen um sich!
190.
Die ehemalige deutsche Bildung. — Als die Deutschen den anderen Völkern Europa’s anfiengen interessant zu werden — es ist nicht zu lange her —, geschah es vermöge einer Bildung, die sie jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen, als den politischen und nationalen Wahnsinn. Freilich haben sie mit ihm erreicht, dass sie den anderen Völkern noch weit interessanter geworden sind, als sie es damals durch ihre Bildung waren: und so mögen sie ihre Zufriedenheit haben! Inzwischen ist nicht zu leugnen, dass jene deutsche Bildung die Europäer genarrt hat und dass sie eines solchen Interesses, ja einer solchen Nachahmung und wetteifernden Aneignung nicht werth war. Man sehe sich heute einmal nach Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Hegel, Schelling um, man lese ihre Briefwechsel und führe sich in den grossen Kreis ihrer Anhänger ein: was ist ihnen gemeinsam, was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt sind, bald so unausstehlich, bald so rührend und bemitleidenswerth? Einmal die Sucht, um jeden Preis moralisch erregt zu erscheinen; sodann das Verlangen nach glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten), — leider „schön“ nach einem schlechten verschwommenen Geschmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rühmte. Es ist ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus, welcher vor Allem edel verstellte Gebärden und edel verstellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenso anmaasslich als harmlos, beseelt vom herzlichsten Widerwillen gegen die „kalte“ oder „trockene“ Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollständigen Leidenschaften, gegen jede Art philosophischer Enthaltsamkeit und Skepsis, zumal aber gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiösen Symbolik gebrauchen liess. Diesem Treiben der deutschen Bildung sah Goethe zu, in seiner Art: danebenstehend, mild widerstrebend, schweigsam, sich auf seinem eignen, besseren Wege immer mehr bestärkend. Dem sah etwas später auch Schopenhauer zu, — ihm war viel wirkliche Welt und Teufelei der Welt wieder sichtbar geworden, und er sprach davon ebenso grob als begeistert: denn diese Teufelei hat ihre Schönheit! — Und was verführte im Grunde die Ausländer, dass sie dem nicht so zusahen, wie Goethe und Schopenhauer, oder einfach davon absahen? Es war jener matte Glanz, jenes räthselhafte Milchstrassen-Licht, welches um diese Bildung leuchtete: dabei sagte sich der Ausländer „Das ist uns sehr, sehr ferne, da hört für uns Sehen, Hören, Verstehen, Geniessen, Abschätzen auf; trotzdem könnten es Sterne sein! Sollten die Deutschen in aller Stille eine Ecke des Himmels entdeckt und sich dort niedergelassen haben? Man muss suchen, den Deutschen näher zu kommen.“ Und man kam ihnen näher: während kaum viel später die selben Deutschen sich zu bemühen anfiengen, den Milchstrassen-Glanz von sich abzustreifen; sie wussten zu gut, dass sie nicht im Himmel gewesen waren, — sondern in einer Wolke!
191.
Bessere Menschen! — Man sagt mir, unsere Kunst wende sich an die gierigen, unersättlichen, ungebändigten, verekelten, zerquälten Menschen der Gegenwart und zeige ihnen ein Bild von Seligkeit, Höhe und Entweltlichung neben dem Bilde ihrer Wüstheit: sodass sie einmal vergessen und aufathmen können, ja vielleicht den Antrieb zur Flucht und Umkehr mit aus jenem Vergessen zurückbringen. Arme Künstler, mit einem solchen Publicum! Mit solchen halb priesterlichen, halb irrenärztlichen Hintergedanken! Um wie viel glücklicher war Corneille — „unser grosser Corneille“, wie Frau von Sévigné, mit einem Accent des Weibes vor einem ganzen Manne, ausruft, — um wie viel höher seine Zuhörerschaft, welcher er mit den Bildern ritterlicher Tugenden, strenger Pflicht, grossmüthiger Aufopferung, heldenhafter Bändigung seiner selber wohlthun konnte! Wie anders liebten er und sie das Dasein, nicht aus einem blinden wüsten „Willen“ heraus, den man verflucht, weil man ihn nicht zu tödten vermag, sondern als einen Ort, auf dem Grösse und Humanität mitsammen möglich sind und wo selbst der strengste Zwang der Formen, die Unterwerfung unter eine fürstliche und geistliche Willkür weder den Stolz, noch die Ritterlichkeit, noch die Anmuth, noch den Geist aller Einzelnen unterdrücken können, vielmehr als ein Reiz und Sporn des Gegensatzes zur angeborenen Selbstherrlichkeit und Vornehmheit, zur ererbten Macht des Wollens und der Leidenschaft empfunden werden!
192.
Sich vollkommene Gegner wünschen. — Man kann es den Franzosen nicht streitig machen, dass sie das christlichste Volk der Erde gewesen sind: nicht in Hinsicht darauf, dass die Gläubigkeit der Masse bei ihnen grösser gewesen sei, als anderwärts, sondern desshalb, weil bei ihnen die schwierigsten christlichen Ideale sich in Menschen verwandelt haben und nicht nur Vorstellung, Ansatz, Halbheit geblieben sind. Da steht Pascal, in der Vereinigung von Gluth, Geist und Redlichkeit der erste aller Christen, — und man erwäge, was sich hier zu vereinigen hatte! Da steht Fénelon, der vollkommene und bezaubernde Ausdruck der kirchlichen Cultur in allen ihren Kräften: eine goldene Mitte, die man als Historiker geneigt sein könnte, als etwas Unmögliches zu beweisen, während sie nur etwas unsäglich Schwieriges und Unwahrscheinliches gewesen ist. Da steht Frau von Guyon unter ihres Gleichen, den französischen Quietisten: und Alles, was die Beredtsamkeit und die Brunst des Apostels Paulus vom Zustande der erhabensten, liebendsten, stillsten, verzücktesten Halbgöttlichkeit des Christen zu errathen gesucht hat, ist da Wahrheit geworden und hat dabei jene jüdische Zudringlichkeit, welche Paulus gegen Gott hat, abgestreift, Dank einer ächten, frauenhaften, feinen, vornehmen, altfranzösischen Naivität in Wort und Gebärde. Da steht der Gründer der Trappistenklöster, er, der mit dem asketischen Ideale des Christenthums den letzten Ernst gemacht hat, nicht als eine Ausnahme unter Franzosen, sondern recht als Franzose: denn bis zu diesem Augenblick vermochte seine düstere Schöpfung nur unter Franzosen heimisch und kräftig zu bleiben, sie folgte ihnen in den Elsass und nach Algerien. Vergessen wir die Hugenotten nicht: schöner ist die Vereinigung des kriegerischen und arbeitsamen Sinnes, der feineren Sitte und der christlichen Strenge bisher nicht dagewesen. Und in Port Royal kam zum letzten Male das grosse christliche Gelehrtenthum zum Blühen: und das Blühen verstehen grosse Menschen in Frankreich besser, als anderwärts. Ferne davon, oberflächlich zu sein, hat ein grosser Franzose immer doch seine Oberfläche, eine natürliche Haut für seinen Inhalt und seine Tiefe, — während die Tiefe eines grossen Deutschen zumeist wie in einer krausförmigen Kapsel verschlossen gehalten wird, als ein Elixir, das vor Licht und leichtfertigen Händen durch seine harte und wunderliche Hülle sich zu schützen sucht. — Und nun errathe man, warum dieses Volk der vollendeten Typen der Christlichkeit auch die vollendeten Gegentypen des unchristlichen Freigeistes erzeugen musste! Der französische Freigeist kämpfte in sich immer mit grossen Menschen und nicht nur mit Dogmen und erhabenen Missgeburten, wie die Freigeister anderer Völker.
193.
Esprit und Moral. — Der Deutsche, welcher sich auf das Geheimniss versteht, mit Geist, Wissen und Gemüth langweilig zu sein, und sich gewöhnt hat, die Langeweile als moralisch zu empfinden, — hat vor dem französischen esprit die Angst, er möchte der Moral die Augen ausstechen — und doch eine Angst und Lust, wie das Vöglein vor der Klapperschlange. Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als Hegel, — aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugierig, — wie „junge Frau’n durch ihre Schleier blicken“, um mit dem alten Weiberhasser Aeschylus zu reden —: jener Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die Gesellschaft von Denkern gehört, als Zukost der Wissenschaft, — aber in jenen Umwickelungen präsentirt es sich als abstruse Wissenschaft selber und durchaus als höchst moralische Langeweile! Da hatten die Deutschen eine ihnen erlaubte Form des esprit und sie genossen sie mit solchem ausgelassenen Entzücken, dass Schopenhauer’s guter, sehr guter Verstand davor stille stand, — er hat zeitlebens gegen das Schauspiel, welches ihm die Deutschen boten, gepoltert, aber es nie sich zu erklären vermocht.
194.
Eitelkeit der Morallehrer. — Der im Ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf Ein Mal wollten, das heisst, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften für Alle geben. Diess aber heisst im Unbestimmten schweifen und Reden an die Thiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Thiere diess langweilig finden! Man sollte begränzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor Allem aber bleibt der grosse Erfolg immer Dem, welcher weder Alle, noch begränzte Kreise, sondern Einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unseren eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst eben so vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten — und mit der Aufgabe auch Würde, vor sich und aller anderen „guten Gesellschaft“.
195.
Die sogenannte classische Erziehung. — Zu entdecken, dass unser Leben der Erkenntniss geweiht ist; dass wir es wegwerfen würden, nein! dass wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorsprechen:
„Schicksal, ich folge dir! Und wollt’ ich nicht,
ich müsst’ es doch und unter Seufzen thun!“
— Und nun, bei einem Rückblick auf den Weg des Lebens, ebenfalls entdecken, dass Etwas nicht wieder gut zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wissbegierigen, heissen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der Erkenntniss der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten „classischen Bildung“! Die Vergeudung unserer Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen ebenso ungeschickt, als quälerisch beibrachte und zuwider dem obersten Satze aller Bildung: dass man nur Dem, der Hunger darnach hat, eine Speise gebe! Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, anstatt uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines tägliches Leben, unsere Hantierungen und Alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begiebt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen, — um unsrer Begierde dann zu zeigen, dass wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allernächst nöthig haben und uns dann das erste wissenschaftliche Entzücken an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren! Hätte man uns auch nur die Ehrfurcht vor diesen Wissenschaften gelehrt, hätte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder-Weiterkämpfen der Grossen, von dem Martyrium, welches die Geschichte der strengen Wissenschaft ist, auch nur Ein Mal die Seele erzittern machen! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der Historie, der „formalen Bildung“ und der „Classicität“! Und wir liessen uns so leicht betrügen! Formale Bildung! Hätten wir nicht auf die besten Lehrer unserer Gymnasien zeigen können, lachend und fragend: „wo ist denn da die formale Bildung? Und wenn sie fehlt, wie sollen sie dieselbe lehren?“ Und Classicität! Lernten wir Etwas von dem, worin gerade die Alten ihre Jugend erzogen? Lernten wir sprechen wie sie, schreiben wie sie? Übten wir uns unablässig in der Fechtkunst des Gesprächs, in der Dialektik? Lernten wir uns schön und stolz bewegen wie sie, ringen, werfen, faustkämpfen wie sie? Lernten wir Etwas von der praktischen Asketik aller griechischen Philosophen? Wurden wir in einer einzigen antiken Tugend geübt und in der Weise, wie die Alten sie übten? Fehlte nicht überhaupt das ganze Nachdenken über Moral in unserer Erziehung, um wieviel mehr gar die einzig mögliche Kritik desselben, jene strengen und muthigen Versuche, in dieser oder jener Moral zu leben? Erregte man in uns irgend ein Gefühl, das den Alten höher galt, als den Neueren? Zeigte man uns die Eintheilung des Tages und des Lebens und die Ziele über dem Leben in einem antiken Geiste? Lernten wir auch nur die alten Sprachen so, wie wir die lebender Völker lernen, — nämlich zum Sprechen und zum Bequem- und Gut-Sprechen? Nirgends ein wirkliches Können, ein neues Vermögen als Ergebniss mühseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben! Und was für ein Wissen! Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als dass alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich, ja, kaum zugänglich ist, und dass die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. Die ähnlichen Worte und Begriffe täuschen uns: aber hinter ihnen liegt immer eine Empfindung versteckt, welche dem modernen Empfinden fremd, unverständlich oder peinlich sein müsste. Das sind mir Gebiete, auf denen sich Knaben tummeln dürften! Genug, wir haben es gethan, als wir Knaben waren und uns beinahe für immer dabei einen Widerwillen gegen das Alterthum heimgeholt, den Widerwillen einer scheinbar allzugrossen Vertraulichkeit! Denn so weit geht die stolze Einbildung unserer classischen Erzieher, gleichsam im Besitze der Alten zu sein, dass sie diesen Dünkel noch auf die Erzogenen überfliessen lassen, nebst dem Verdachte, dass ein solcher Besitz nicht wohl selig machen könne, sondern dass er gut genug für rechtschaffene, arme, närrische alte Bücher-Drachen sei: „mögen diese auf ihrem Horte brüten! er wird wohl ihrer würdig sein!“ — mit diesem stillen Hintergedanken vollendete sich unsere classische Erziehung. — Diess ist nicht wieder gut zu machen — an uns! Aber denken wir nicht nur an uns!
196.
Die persönlichsten Fragen der Wahrheit. — „Was ist Das eigentlich, was ich thue? Und was will gerade ich damit?“ — das ist die Frage der Wahrheit, welche bei unserer jetzigen Art Bildung nicht gelehrt und folglich nicht gefragt wird, für sie giebt es keine Zeit. Dagegen mit Kindern von Possen zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Frauen, die später Mütter werden sollen, Artigkeiten zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Jünglingen von ihrer Zukunft und ihrem Vergnügen zu reden und nicht von der Wahrheit, — dafür ist immer Zeit und Lust da! — Aber was sind auch siebenzig Jahre! — das läuft hin und ist bald zu Ende; es liegt so Wenig daran, dass die Welle wisse, wie und wohin sie laufe! Ja, es könnte Klugheit sein, es nicht zu wissen. — „Zugegeben: aber stolz ist es nicht, auch nicht einmal darnach zu fragen; unsere Bildung macht die Menschen nicht stolz.“ — Um so besser! — „Wirklich?“
197.
Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung. — Man überschlage den Beitrag, den die Deutschen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit ihrer geistigen Arbeit der allgemeinen Cultur gebracht haben und nehme erstens die deutschen Philosophen: sie sind auf die erste und älteste Stufe der Speculation zurückgegangen, denn sie fanden in Begriffen ihr Genüge, anstatt in Erklärungen, gleich den Denkern träumerischer Zeitalter, — eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie wurde durch sie wieder lebendig gemacht. Zweitens die deutschen Historiker und Romantiker: ihre allgemeine Bemühung gieng dahin, ältere, primitive Empfindungen und namentlich das Christenthum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mittelalterlichkeit, die orientalische Asketik, das Inderthum zu Ehren zu bringen. Drittens die Naturforscher: sie kämpften gegen Newton’s und Voltaire’s Geist und suchten, gleich Goethe und Schopenhauer, den Gedanken einer vergöttlichten oder verteufelten Natur und ihrer durchgängigen ethischen und symbolischen Bedeutsamkeit wieder aufrecht zu stellen. Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng gegen die Aufklärung, und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverständniss als deren Folge galt: die Pietät gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietät gegen Alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal voll würden und keinen Raum mehr für zukünftige und neuernde Ziele hätten. Der Cultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus’ der Vernunft, und die deutschen Musiker, als die Künstler des Unsichtbaren, Schwärmerischen, Märchenhaften, Sehnsüchtigen, bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher, als alle Künstler des Wortes und der Gedanken. Bringen wir in Anrechnung, dass unzähliges Gute im Einzelnen gesagt und erforscht worden ist und Manches seitdem billiger beurtheilt wird, als jemals: so bleibt doch übrig, vom Ganzen zu sagen, dass es keine geringe allgemeine Gefahr war, unter dem Anscheine der voll- und endgültigsten Erkenntniss des Vergangenen die Erkenntniss überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken und — um mit Kant zu reden, der so seine eigene Aufgabe bestimmte — „dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Gränzen wies.“ Athmen wir wieder freie Luft: die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen! Und seltsam: gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden, — die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfindung für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss, nachdem sie alle eine Zeit lang hülfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen — unbekümmert darum, dass es eine „grosse Revolution“ und wiederum eine „grosse Reaction“ gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch giebt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft grossen Fluth, in welcher wir treiben und treiben wollen!
198.
Seinem Volke den Rang geben. — Viele grosse innere Erfahrungen haben, und auf und über ihnen mit einem geistigen Auge ruhen, — das macht die Menschen der Cultur, welche ihrem Volke den Rang geben. In Frankreich und Italien that diess der Adel, in Deutschland, wo der Adel bisher im Ganzen zu den Armen im Geiste gehörte (vielleicht nicht mehr auf lange), thaten es Priester, Lehrer und deren Nachkommen.
199.
Wir sind vornehmer. — Treue, Grossmuth, die Scham des guten Rufs: diese Drei in Einer Gesinnung verbunden — das nennen wir adelig, vornehm, edel, und damit übertreffen wir die Griechen. Wir wollen es ja nicht preisgeben, aus dem Gefühle, dass die alten Gegenstände dieser Tugenden in der Achtung gesunken sind (und mit Recht), sondern behutsam diesem unserem köstlichen Erbtriebe neue Gegenstände unterschieben. — Um zu begreifen, dass die Gesinnung der vornehmsten Griechen inmitten unserer immer noch ritterlichen und feudalistischen Vornehmheit als gering und kaum anständig empfunden werden müsste, erinnere man sich jenes Trostspruches, den Odysseus in schmählichen Lagen im Munde führt: „Ertrag’ es nur, mein liebes Herz! du hast schon Hundemässigeres ertragen!“ Und dazu nehme man als Nutzanwendung des mythischen Vorbildes die Geschichte von jenem athenischen Officier, der, vor dem ganzen Generalstabe, von einem andern Officier mit dem Stocke bedroht, diese Schmach mit dem Worte von sich abschüttelte: „Schlag’ mich nur! Nun aber höre mich auch!“ (Diess that Themistokles, jener vielgewandte Odysseus des classischen Zeitalters, der recht der Mann dazu war, in diesem schmählichen Augenblick jenen Trost- und Nothvers an sein „liebes Herz“ hinunterzuschicken.) Es lag den Griechen ferne, Leben und Tod einer Beschimpfung halber so leicht zu nehmen, wie wir es thun, unter dem Eindruck vererbter ritterlicher Abenteuerlichkeit und Opferlust; oder Gelegenheiten aufzusuchen, wo man Beides auf ein ehrenvolles Spiel setzen könne, wie wir bei Duellen; oder die Erhaltung des guten Namens (Ehre) höher zu achten, als die Eroberung des bösen Namens, wenn Letzteres mit Ruhm und Machtgefühl verträglich ist; oder den ständischen Vorurtheilen und Glaubensartikeln Treue zu halten, wenn sie verhindern könnten, ein Tyrann zu werden. Denn diess ist das unedle Geheimniss jedes guten griechischen Aristokraten: er hält aus tiefster Eifersucht jeden seiner Standesgenossen auf gleichem Fusse mit sich, ist aber jeden Augenblick wie ein Tiger bereit, auf seine Beute, die Gewaltherrschaft, loszustürzen: was ist ihm dabei Lüge, Mord, Verrath, Verkauf der Vaterstadt! Die Gerechtigkeit wurde dieser Art Menschen ausserordentlich schwer, sie galt beinahe für etwas Unglaubliches; „der Gerechte“ — das klang unter Griechen wie „der Heilige“ unter Christen. Wenn aber gar Sokrates sagte: „der Tugendhafte ist der Glücklichste“, so traute man seinen Ohren nicht, man glaubte etwas Verrücktes gehört zu haben. Denn bei dem Bilde des Glücklichsten dachte jeder Mann vornehmer Abkunft an die vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei des Tyrannen, der seinem Übermuthe und seiner Lust Alles und Alle opfert. Unter Menschen, welche im Geheimen über ein solches Glück wild phantasirten, konnte freilich die Verehrung des Staates nicht tief genug gepflanzt werden, — aber ich meine: Menschen, deren Machtgelüst nicht mehr so blind wüthet, wie das jener vornehmen Griechen, haben auch jene Abgötterei des Staats-Begriffes nicht mehr nöthig, mit welcher damals jenes Gelüst im Zaume gehalten wurde.
200.
Armuth ertragen. — Der grosse Vorzug adeliger Abkunft ist, dass sie die Armuth besser ertragen lässt.
201.
Zukunft des Adels. — Die Gebärden der vornehmen Welt drücken aus, dass in ihren Gliedern fortwährend das Bewusstsein der Macht sein reizvolles Spiel spielt. So lässt sich der Mensch von adeliger Sitte, Mann oder Weib, nicht gern wie ganz erschöpft in den Sessel fallen, er vermeidet es, wo alle Welt es sich bequem macht, zum Beispiel auf der Eisenbahn, den Rücken anzulehnen, er scheint nicht müde zu werden, wenn er stundenlang bei Hofe auf seinen Füssen steht, er richtet sein Haus nicht auf das Behagliche, sondern grossräumig und würdevoll, wie zu einem Aufenthalt grösserer (auch längerer) Wesen ein, er beantwortet eine herausfordernde Rede mit Haltung und geistiger Helle, nicht wie entsetzt, zermalmt, beschämt, ausser Athem, nach Art des Plebejers. So wie er den Anschein einer beständig gegenwärtigen hohen physischen Kraft zu wahren weiss, wünscht er auch durch beständige Heiterkeit und Verbindlichkeit, selbst in peinlichen Lagen, den Eindruck aufrecht zu erhalten, dass seine Seele und sein Geist den Gefahren und den Überraschungen gewachsen ist. Eine vornehme Cultur kann in Absicht der Leidenschaften entweder dem Reiter gleichen, der Wonne empfindet, ein leidenschaftliches stolzes Thier im spanischen Tritt gehen zu lassen — man stelle sich das Zeitalter Ludwig’s des Vierzehnten vor Augen —, oder dem Reiter, der sein Pferd wie eine Naturgewalt unter sich hinschiessen fühlt, hart an der Gränze, wo Pferd und Reiter den Kopf verlieren, aber im Genuss der Wonne, gerade jetzt noch den Kopf oben zu behalten: in beiden Fällen athmet die vornehme Cultur Macht, und wenn sie sehr oft in ihren Sitten auch nur den Schein des Machtgefühls fordert, so wächst doch durch den Eindruck, welchen dieses Spiel auf die Nicht-Vornehmen macht, und durch das Schauspiel dieses Eindrucks, das wirkliche Gefühl der Überlegenheit fortwährend. — Diess unbestreitbare Glück der vornehmen Cultur, welches auf dem Gefühl der Überlegenheit sich aufbaut, beginnt jetzt auf eine noch höhere Stufe zu steigen, da es nunmehr, Dank allen freien Geistern, dem adelig Geborenen und Erzogenen erlaubt und nicht mehr schimpflich ist, in den Orden der Erkenntniss zu treten und dort geistigere Weihen zu holen, höhere Ritterdienste zu lernen, als bisher, und zu jenem Ideal der siegreichen Weisheit aufzuschauen, welches noch keine Zeit mit so gutem Gewissen vor sich aufstellen durfte, wie die Zeit, welche gerade jetzt kommen will. Zu guterletzt: womit soll sich denn fürderhin der Adel beschäftigen, wenn es von Tag zu Tage mehr den Anschein hat, dass es unanständig wird, sich mit Politik zu befassen? — —
202.
Zur Pflege der Gesundheit. — Man hat kaum angefangen, über die Physiologie der Verbrecher nachzudenken und doch steht man schon vor der unabweislichen Einsicht, dass zwischen Verbrechern und Geisteskranken kein wesentlicher Unterschied besteht: vorausgesetzt, dass man glaubt, die übliche moralische Denkweise sei die Denkweise der geistigen Gesundheit. Kein Glaube aber wird jetzt so gut noch geglaubt, wie dieser, und so scheue man sich nicht, seine Consequenz zu ziehen und den Verbrecher wie einen Geisteskranken zu behandeln: vor Allem nicht mit hochmüthiger Barmherzigkeit, sondern mit ärztlicher Klugheit, ärztlichem guten Willen. Es thut ihm Luftwechsel, andere Gesellschaft, zeitweiliges Verschwinden, vielleicht Alleinsein und eine neue Beschäftigung noth, — gut! Vielleicht findet er es selber in seinem Vortheil, eine Zeit hindurch in einem Gewahrsam zu leben, um so Schutz gegen sich selber und einen lästigen tyrannischen Trieb zu finden, — gut! Man soll ihm die Möglichkeit und die Mittel des Geheiltwerdens (der Ausrottung, Umbildung, Sublimirung jenes Triebes) ganz klar vorlegen, auch, im schlimmen Falle, die Unwahrscheinlichkeit desselben; man soll dem unheilbaren Verbrecher, der sich selber zum Greuel geworden ist, die Gelegenheit zum Selbstmord anbieten. Diess als äusserstes Mittel der Erleichterung vorbehalten: soll man Nichts verabsäumen, um vor Allem dem Verbrecher den guten Muth und die Freiheit des Gemüthes wieder zu geben; man soll Gewissensbisse wie eine Sache der Unreinlichkeit ihm von der Seele wischen und ihm Fingerzeige geben, wie er den Schaden, welchen er vielleicht an dem Einen geübt, durch eine Wohlthat am Anderen, ja vielleicht an der Gesammtheit ausgleichen und überbieten könne. Alles in äusserster Schonung! Und namentlich in Anonymität oder unter neuen Namen und mit häufigerem Ortswechsel, damit die Unbescholtenheit des Rufes und sein künftiges Leben so wenig wie möglich dabei Gefahr laufe. Jetzt zwar will immer noch Der, welchem ein Schaden zugefügt ist, ganz abgesehen davon, wie dieser Schaden etwa gut zu machen ist, seine Rache haben und wendet sich ihrethalben an die Gerichte, — und diess hält einstweilen unsere abscheulichen Strafordnungen noch aufrecht, sammt ihrer Krämerwage und dem Aufwiegenwollen der Schuld durch die Strafe: aber dürften wir nicht hierüber hinaus kommen können? Wie erleichtert wäre das allgemeine Gefühl des Lebens, wenn man mit dem Glauben an die Schuld auch vom alten Instinct der Rache sich losmachte und es selbst als eine feine Klugheit der Glücklichen betrachtete, mit dem Christenthum den Segen über seine Feinde zu sprechen und Denen wohlzuthun, die uns beleidigt haben! Schaffen wir den Begriff der Sünde aus der Welt — und schicken wir ihm den Begriff der Strafe bald hinterdrein! Mögen diese verbannten Unholde irgendwo anders fürderhin, als unter Menschen, leben, wenn sie durchaus leben wollen und nicht am eigenen Ekel zu Grunde gehen! — Inzwischen erwäge man, dass die Einbusse, welche die Gesellschaft und die Einzelnen durch die Verbrecher erleiden, der Einbusse ganz gleichartig ist, welche sie von den Kranken erleiden: die Kranken verbreiten Sorge, Missmuth, produciren nicht, zehren den Ertrag Anderer auf, brauchen Wärter, Ärzte, Unterhaltung und leben von der Zeit und den Kräften der Gesunden. Trotzdem würde man jetzt Den als unmenschlich bezeichnen, welcher dafür an den Kranken Rache nehmen wollte. Ehedem freilich that man diess; in rohen Zuständen der Cultur und jetzt noch bei manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der That als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgend eines dämonischen Wesens, welches sich ihm in Folge einer Schuld einverleibt hat, — da heisst es: jeder Kranke ist ein Schuldiger! Und wir, — sollten wir noch nicht reif für die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dürfen: jeder „Schuldige“ ist ein Kranker? — Nein, die Stunde dafür ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor Allem die Ärzte, für welche Das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst und Heilwissenschaft umgewandelt haben muss; noch fehlt allgemein jenes hungrige Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird; noch sind die Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen und höheren Schulen; noch giebt es keine stillen Vereine Solcher, welche sich unter einander verpflichtet haben, auf die Hülfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Übelthätern zu verzichten; noch hat kein Denker den Muth gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer, welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte: „willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneusst dein der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, — es geneusst dein alle Creatur.“
203.
Gegen die schlechte Diät. — Pfui über die Mahlzeiten, welche jetzt die Menschen machen, in den Gasthäusern sowohl als überall, wo die wohlbestellte Classe der Gesellschaft lebt! Selbst wenn hochansehnliche Gelehrte zusammenkommen, ist es die selbe Sitte, welche ihren Tisch wie den des Banquiers füllt: nach dem Gesetz des ”Viel zu viel“ und des ”Vielerlei“, — woraus folgt, dass die Speisen auf den Effect und nicht auf die Wirkung hin zubereitet werden, und aufregende Getränke helfen müssen, die Schwere im Magen und Gehirn zu vertreiben. Pfui, welche Wüstheit und Überempfindsamkeit muss die allgemeine Folge sein! Pfui, welche Träume müssen ihnen kommen! Pfui, welche Künste und Bücher werden der Nachtisch solcher Mahlzeiten sein! Und mögen sie thun, was sie wollen: in ihrem Thun wird der Pfeffer und der Widerspruch oder die Weltmüdigkeit regieren! (Die reiche Classe in England hat ihr Christenthum nöthig, um ihre Verdauungsbeschwerden und ihre Kopfschmerzen ertragen zu können.) Zuletzt, um das Lustige an der Sache und nicht nur deren Ekelhaftes zu sagen, sind diese Menschen keineswegs Schlemmer; unser Jahrhundert und seine Art Geschäftigkeit ist mächtiger über ihre Glieder, als ihr Bauch: was wollen also diese Mahlzeiten? — Sie repräsentiren! Was, in aller Heiligen Namen? Den Stand? — Nein, das Geld: man hat keinen Stand mehr! Man ist ”Individuum“! Aber Geld ist Macht, Ruhm, Würde, Vorrang, Einfluss; Geld macht jetzt das grosse oder kleine moralische Vorurtheil für einen Menschen, je nachdem er davon hat! Niemand will es unter den Scheffel, Niemand möchte es auf den Tisch stellen; folglich muss das Geld einen Repräsentanten haben, den man auf den Tisch stellen kann: siehe unsere Mahlzeiten! —
204.
Danae und Gott im Golde. — Woher diese unmässige Ungeduld, welche jetzt den Menschen zum Verbrecher macht, in Zuständen, welche den entgegengesetzten Hang besser erklären würden? Denn, wenn Dieser falsches Gewicht gebraucht, Jener sein Haus anbrennt, nachdem er es hoch versichert hat, ein Dritter am Prägen falschen Geldes Antheil nimmt, wenn drei Viertel der höheren Gesellschaft dem erlaubten Betruge nachhängt und am schlechten Gewissen der Börse und der Speculation zu tragen hat: was treibt sie? Nicht die eigentliche Noth, es geht ihnen nicht so ganz schlecht, vielleicht sogar essen und trinken sie ohne Sorge, — aber eine furchtbare Ungeduld darüber, dass das Geld sich zu langsam häuft und eine ebenso furchtbare Lust und Liebe zu gehäuftem Gelde drängt sie bei Tag und bei der Nacht. In dieser Ungeduld und dieser Liebe aber kommt jener Fanatismus des Machtgelüstes wieder zum Vorschein, welcher ehemals durch den Glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein, entzündet wurde und der so schöne Namen trug, dass man es daraufhin wagen konnte, mit gutem Gewissen unmenschlich zu sein (Juden, Ketzer und gute Bücher zu verbrennen und ganze höhere Culturen wie die von Peru und Mexiko auszurotten). Die Mittel des Machtgelüstes haben sich verändert, aber der selbe Vulcan glüht noch immer, die Ungeduld und die unmässige Liebe wollen ihre Opfer: und was man ehedem „um Gottes willen“ that, thut man jetzt um des Geldes willen, das heisst um dessen willen, was jetzt am höchsten Machtgefühl und gutes Gewissen giebt.
205.
Vom Volke Israel. — Zu den Schauspielen, auf welche uns das nächste Jahrhundert einladet, gehört die Entscheidung im Schicksale der europäischen Juden. Dass sie ihren Würfel geworfen, ihren Rubikon überschritten haben, greift man jetzt mit beiden Händen: es bleibt ihnen nur noch übrig, entweder die Herren Europa's zu werden oder Europa zu verlieren, so wie sie einst vor langen Zeiten Aegypten verloren, wo sie sich vor ein ähnliches Entweder-Oder gestellt hatten. In Europa aber haben sie eine Schule von achtzehn Jahrhunderten durchgemacht, wie sie hier kein andres Volk aufweisen kann, und zwar so, dass nicht eben der Gemeinschaft, aber umsomehr den Einzelnen die Erfahrungen dieser entsetzlichen Übungszeit zu Gute gekommen sind. In Folge davon sind die seelischen und geistigen Hülfsquellen bei den jetzigen Juden ausserordentlich; sie greifen in der Noth am seltensten von Allen, die Europa bewohnen, zum Becher oder zum Selbstmord, um einer tiefen Verlegenheit zu entgehen, — was dem geringer Begabten so nahe liegt. Jeder Jude hat in der Geschichte seiner Väter und Grossväter eine Fundgrube von Beispielen kältester Besonnenheit und Beharrlichkeit in furchtbaren Lagen, von feinster Überlistung und Ausnützung des Unglücks und des Zufalls; ihre Tapferkeit unter dem Deckmantel erbärmlicher Unterwerfung, ihr Heroismus im spernere se sperni übertrifft die Tugenden aller Heiligen. Man hat sie verächtlich machen wollen, dadurch dass man sie zwei Jahrtausende lang verächtlich behandelte und ihnen den Zugang zu allen Ehren, zu allem Ehrbaren verwehrte, dafür sie um so tiefer in die schmutzigeren Gewerbe hineinstiess, — und wahrhaftig, sie sind unter dieser Procedur nicht reinlicher geworden. Aber verächtlich? Sie haben selber nie aufgehört, sich zu den höchsten Dingen berufen zu glauben, und ebenso haben die Tugenden aller Leidenden nie aufgehört, sie zu schmücken. Die Art, wie sie ihre Väter und ihre Kinder ehren, die Vernunft ihrer Ehen und Ehesitten zeichnet sie unter allen Europäern aus. Zu alledem verstanden sie es, ein Gefühl der Macht und der ewigen Rache sich aus eben den Gewerben zu schaffen, welche man ihnen überliess (oder denen man sie überliess); man muss es zur Entschuldigung selbst ihres Wuchers sagen, dass sie ohne diese gelegentliche angenehme und nützliche Folterung ihrer Verächter es schwerlich ausgehalten hätten, sich so lange selbst zu achten. Denn unsere Achtung vor uns selber ist daran gebunden, dass wir Wiedervergeltung im Guten und Schlimmen üben können. Dabei reisst sie ihre Rache nicht leicht zu weit: denn sie haben Alle die Freisinnigkeit, auch die der Seele, zu welcher der häufige Wechsel des Ortes, des Klima's, der Sitten von Nachbarn und Unterdrückern den Menschen erzieht, sie besitzen die bei Weitem grösste Erfahrung in allem menschlichen Verkehre und üben selbst in der Leidenschaft noch die Vorsicht dieser Erfahrung. Ihrer geistigen Geschmeidigkeit und Gewitztheit sind sie so sicher, dass sie nie, selbst in der bittersten Lage nicht, nöthig haben, mit der physischen Kraft, als grobe Arbeiter, Lastträger, Ackerbausclaven ihr Brod zu erwerben. Ihren Manieren merkt man noch an, dass man ihnen niemals ritterlich vornehme Empfindungen in die Seele und schöne Waffen um den Leib gegeben hat: etwas Zudringliches wechselt mit einer oft zärtlichen, fast stets peinlichen Unterwürfigkeit. Aber jetzt, da sie unvermeidlich von Jahr zu Jahr mehr sich mit dem besten Adel Europa's verschwägern, werden sie bald eine gute Erbschaft von Manieren des Geistes und Leibes gemacht haben: sodass sie in hundert Jahren schon vornehm genug dreinschauen werden, um als Herren bei den ihnen Unterworfenen nicht Scham zu erregen. Und darauf kommt es an! Desshalb ist ein Austrag ihrer Sache für jetzt noch verfrüht! Sie wissen selber am besten, dass an eine Eroberung Europa's und an irgend welche Gewaltsamkeit für sie nicht zu denken ist: wohl aber, dass Europa irgendwann einmal wie eine völlig reife Frucht ihnen in die Hand fallen dürfte, welche sich ihr nur leicht entgegenstreckt. Inzwischen haben sie dazu nöthig, auf allen Gebieten der europäischen Auszeichnung sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen: bis sie es so weit bringen, Das, was auszeichnen soll, selber zu bestimmen. Dann werden sie die Erfinder und Wegzeiger der Europäer heissen und nicht mehr deren Scham beleidigen. Und wohin soll auch diese Fülle angesammelter grosser Eindrücke, welche die jüdische Geschichte für jede jüdische Familie ausmacht, diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art, — wohin soll sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in grosse geistige Menschen und Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europa's verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes freuen darf, — und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun!
206.
Der unmögliche Stand. — Arm, fröhlich und unabhängig! — das ist beisammen möglich; arm, fröhlich und Sclave! — das ist auch möglich, — und ich wüsste den Arbeitern der Fabrik-Sclaverei nichts Besseres zu sagen: gesetzt, sie empfinden es nicht überhaupt als Schande, dergestalt, wie es geschieht, als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lückenbüsser der menschlichen Erfindungskunst verbraucht zu werden! Pfui! zu glauben, dass durch höhere Zahlung das Wesentliche ihres Elends, ich meine, ihre unpersönliche Verknechtung, gehoben werden könne! Pfui! sich aufreden zu lassen, durch eine Steigerung dieser Unpersönlichkeit, innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft könne die Schande der Sclaverei zur Tugend gemacht werden! Pfui! einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person, sondern Schraube wird! Seid ihr die Mitverschworenen in der jetzigen Narrheit der Nationen, welche vor Allem möglichst Viel produciren und möglichst reich sein wollen? Eure Sache wäre es, ihnen die Gegenrechnung vorzuhalten: wie grosse Summen inneren Werthes für ein solches äusserliches Ziel weggeworfen werden! Wo ist aber euer innerer Werth, wenn ihr nicht mehr wisst, was frei athmen heisst? euch selber nicht einmal nothdürftig in der Gewalt habt? eurer wie eines abgestandenen Getränkes allzu oft überdrüssig werdet? nach der Zeitung hinhorcht und den reichen Nachbar anschielt, lüstern gemacht durch das schnelle Steigen und Fallen von Macht, Geld und Meinungen? wenn ihr keinen Glauben mehr an die Philosophie, die Lumpen trägt, an die Freimüthigkeit des Bedürfnisslosen habt? wenn euch die freiwillige idyllische Armuth, Berufs- und Ehelosigkeit, wie sie recht wohl den Geistigeren unter euch anstehen sollte, zum Gelächter geworden ist? Dagegen die Pfeife der socialistischen Rattenfänger immer im Ohre tönt, die euch mit tollen Hoffnungen brünstig machen wollen? welche euch heissen, bereit zu sein und Nichts weiter, bereit von heute auf morgen, sodass ihr auf Etwas von Aussen her wartet und wartet und in Allem sonst lebt, wie ihr sonst gelebt habt, — bis dieses Warten zum Hunger und zum Durst und zum Fieber und zum Wahnsinn wird, und endlich der Tag der bestia triumphans in aller Herrlichkeit aufgeht? — Dagegen sollte doch Jeder bei sich denken: „lieber auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt Herr zu werden suchen und vor Allem Herr über mich selber; den Ort so lange wechseln, als noch irgend ein Zeichen von Sclaverei mir winkt; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen und für die schlimmsten Zufälle den Tod in Bereitschaft halten: nur nicht länger diese unanständige Knechtschaft, nur nicht länger diess Sauer- und Giftig- und Verschwörerisch-werden!“ Diess wäre die rechte Gesinnung: die Arbeiter in Europa sollten sich als Stand fürderhin für eine Menschen-Unmöglichkeit, und nicht nur, wie meistens geschieht, als etwas hart und unzweckmässig Eingerichtetes erklären; sie sollten ein Zeitalter des grossen Ausschwärmens im europäischen Bienenstocke heraufführen, wie dergleichen bisher noch nicht erlebt wurde, und, durch diese That der Freizügigkeit im grossen Stil, gegen die Maschine, das Capital und die jetzt ihnen drohende Wahl protestiren, entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz-Partei werden zu müssen. Möge sich Europa des vierten Theiles seiner Bewohner erleichtern! Ihm und ihnen wird es leichter um’s Herz werden! In der Ferne erst, bei den Unternehmungen schwärmender Colonisten-Züge wird man recht erkennen, wie viel gute Vernunft und Billigkeit, wie viel gesundes Misstrauen die Mutter Europa ihren Söhnen einverleibt hat, — diesen Söhnen, welche es neben ihr, dem verdumpften alten Weibe, nicht mehr aushalten konnten und Gefahr liefen, griesgrämig, reizbar und genusssüchtig, wie sie selber, zu werden. Ausserhalb Europa’s werden die Tugenden Europa’s mit diesen Arbeitern auf der Wanderschaft sein; und Das, was zu gefährlichem Missmuth und verbrecherischem Hange innerhalb der Heimath zu entarten begann, wird draussen eine wilde schöne Natürlichkeit gewinnen und Heroismus heissen. — So käme doch endlich auch wieder reinere Luft in das alte, jetzt übervölkerte und in sich brütende Europa! Mag es immerhin dann an „Arbeitskräften“ etwas fehlen! Vielleicht wird man sich dabei besinnen, dass man an viele Bedürfnisse sich erst seitdem gewöhnt hat, als es so leicht wurde, sie zu befriedigen, — man wird einige Bedürfnisse wieder verlernen! Vielleicht auch wird man dann Chinesen hereinholen: und diese würden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich für arbeitsame Ameisen schickt. Ja, sie könnten im Ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und — was am meisten wohl noth thut — asiatische Dauerhaftigkeit in’s Geblüt zu geben.
207.
Verhalten der Deutschen zur Moral. — Ein Deutscher ist grosser Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie thut: denn er gehorcht, wo er kann, wie diess einem an sich trägen Geiste wohlthut. Wird er in die Noth gebracht, allein zu stehen und seine Trägheit abzuwerfen, ist es ihm nicht mehr möglich, als Ziffer in einer Summe unterzuducken (in dieser Eigenschaft ist er bei Weitem nicht so viel werth wie ein Franzose oder Engländer) — so entdeckt er seine Kräfte: dann wird er gefährlich, böse, tief, verwegen, und bringt den Schatz von schlafender Energie an’s Licht, den er in sich trägt und an den sonst Niemand (und er selber nicht) glaubte. Wenn ein Deutscher sich in solchem Falle selbst gehorcht — es ist die grosse Ausnahme —, so geschieht es mit der gleichen Schwerfälligkeit, Unerbittlichkeit und Dauer, mit der er sonst seinem Fürsten, seinen amtlichen Obliegenheiten gehorcht: sodass er, wie gesagt, dann grossen Dingen gewachsen ist, die zu dem „schwachen Charakter“, den er bei sich voraussetzt, in gar keinem Verhältniss stehen. Für gewöhnlich aber fürchtet er sich, von sich allein abzuhängen, zu improvisiren: desshalb verbraucht Deutschland so viel Beamte, so viel Tinte. — Der Leichtsinn ist ihm fremd, für ihn ist er zu ängstlich; aber in ganz neuen Lagen, die ihn aus der Schläfrigkeit herausziehen, ist er beinahe leichtsinnig; er geniesst dann die Seltenheit der neuen Lage wie einen Rausch, und er versteht sich auf den Rausch! So ist der Deutsche jetzt in der Politik beinahe leichtsinnig: hat er das Vorurtheil der Gründlichkeit und des Ernstes auch hier für sich und benutzt er es im Verkehr mit den anderen politischen Mächten reichlich, so ist er doch insgeheim voller Übermuth, einmal schwärmen und launenhaft und neuerungssüchtig sein zu dürfen und mit Personen, Parteien, Hoffnungen wie mit Masken zu wechseln. — Die deutschen Gelehrten, welche bisher das Ansehen hatten, die Deutschesten unter den Deutschen zu sein, waren und sind vielleicht noch so gut wie die deutschen Soldaten, wegen ihres tiefen, fast kindlichen Hanges zum Gehorchen in allen äusseren Dingen und der Nöthigung, in der Wissenschaft viel allein zu stehen und Viel zu verantworten; wenn sie ihre stolze, schlichte und geduldige Art und ihre Freiheit von politischer Narrheit zu sichern wissen, in Zeiten, wo der Wind anders bläst, so steht noch Grosses von ihnen zu erwarten: so wie sie sind (oder waren), sind sie der embryonische Zustand von etwas Höherem. — Der Vortheil und der Nachtheil der Deutschen, und selbst ihrer Gelehrten, war bisher, dass sie dem Aberglauben und der Lust, zu glauben, näher standen, als andere Völker; ihre Laster sind, nach wie vor, der Trunk und der Hang zum Selbstmord (dieser ein Zeichen von Schwerfälligkeit des Geistes, der schnell dazu gebracht werden kann, die Zügel wegzuwerfen); ihre Gefahr liegt in Allem, was die Verstandeskräfte bindet und die Affecte entfesselt (wie zum Beispiel der übermässige Gebrauch der Musik und der geistigen Getränke): denn der deutsche Affect ist gegen den eigenen Nutzen gerichtet und selbstzerstörerisch wie der des Trunkenboldes. Die Begeisterung selber ist in Deutschland weniger werth, als anderwärts, denn sie ist unfruchtbar. Wenn je ein Deutscher etwas Grosses that, so geschah es in der Noth, im Zustande der Tapferkeit, der zusammengebissenen Zähne, der gespanntesten Besonnenheit und oft der Grossmuth. — Der Umgang mit ihnen wäre wohl anzurathen, — denn fast jeder Deutsche hat Etwas zu geben, wenn man versteht, ihn dahin zu bringen, dass er es findet, wiederfindet (er ist unordentlich in sich). — — Wenn nun ein Volk dieser Art sich mit Moral abgiebt: welche Moral wird es sein, die gerade ihm genugthut? Sicherlich wird es zuerst wollen, dass sein herzlicher Hang zum Gehorsam in ihr idealisirt erscheine. „Der Mensch muss Etwas haben, dem er unbedingt gehorchen kann“ — das ist eine deutsche Empfindung, eine deutsche Folgerichtigkeit: man begegnet ihr auf dem Grunde aller deutschen Morallehren. Wie anders ist der Eindruck, wenn man sich vor die gesammte antike Moral stellt! Alle diese griechischen Denker, so vielartig ihr Bild uns entgegenkommt, scheinen als Moralisten dem Turnmeister zu gleichen, der einem Jünglinge zuspricht „Komm! Folge mir! Ergieb dich meiner Zucht! So wirst du es vielleicht so hoch bringen, vor allen Hellenen einen Preis davonzutragen.“ Persönliche Auszeichnung, — das ist die antike Tugend. Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, — das ist deutsche Tugend. Lange vor Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte Luther aus der selben Empfindung gesagt: es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, — es war sein Gottesbeweis, er wollte, gröber und volksthümlicher als Kant, dass man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche und schliesslich hat auch Kant seinen Umweg um die Moral nur desshalb genommen, um zum Gehorsam gegen die Person zu gelangen: das ist eben der Cultus des Deutschen, je weniger ihm gerade vom Cultus in der Religion übrig geblieben ist. Griechen und Römer empfanden anders und würden über ein solches „es muss ein Wesen geben“ — gespottet haben: es gehörte zu ihrer südländischen Freiheit des Gefühls, sich des „unbedingten Vertrauens“ zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurückzubehalten. Gar der antike Philosoph! Nil admirari — in diesem Satze sieht er die Philosophie. Und ein Deutscher, nämlich Schopenhauer, geht so weit im Gegentheil, zu sagen: admirari id est philosophari. — Wie aber nun, wenn der Deutsche einmal, wie es vorkommt, in den Zustand geräth, wo er grosser Dinge fähig ist? Wenn die Stunde der Ausnahme, die Stunde des Ungehorsams kommt? — Ich glaube nicht, dass Schopenhauer mit Recht sagt, es sei der einzige Vorzug der Deutschen vor anderen Völkern, dass es unter ihnen mehr Atheisten gebe, als anderwärts, — aber Das weiss ich: wenn der Deutsche in den Zustand geräth, wo er grosser Dinge fähig ist, so erhebt er sich allemal über die Moral! Und wie sollte er nicht? Jetzt muss er etwas Neues thun, nämlich befehlen — sich oder Anderen! Das Befehlen hat ihn aber seine deutsche Moral nicht gelehrt! Das Befehlen ist in ihr vergessen!