Zweites Buch.
97.
Man wird moralisch, — nicht weil man moralisch ist! — Die Unterwerfung unter die Moral kann sclavenhaft oder eitel oder eigennützig oder resignirt oder dumpf-schwärmerisch oder gedankenlos oder ein Act der Verzweiflung sein, wie die Unterwerfung unter einen Fürsten: an sich ist sie nichts Moralisches.
98.
Wandel der Moral. — Es giebt ein fortwährendes Umwandeln und Arbeiten an der Moral, — das bewirken die Verbrechen mit glücklichem Ausgange (wozu zum Beispiel alle Neuerungen des moralischen Denkens gehören).
99.
Worin wir Alle unvernünftig sind. — Wir ziehen immer noch die Folgerungen von Urtheilen, die wir für falsch halten, von Lehren, an die wir nicht mehr glauben, — durch unsere Gefühle.
100.
Vom Traume erwachen. — Edle und weise Menschen haben einmal an die Musik der Sphären geglaubt: edle und weise Menschen glauben noch immer an die „sittliche Bedeutung des Daseins“. Aber eines Tages wird auch diese Sphärenmusik ihrem Ohre nicht mehr vernehmbar sein! Sie erwachen und merken, dass ihr Ohr geträumt hatte.
101.
Bedenklich. — Einen Glauben annehmen, blos weil er Sitte ist, — das heisst doch: unredlich sein, feige sein, faul sein! — Und so wären Unredlichkeit, Feigheit und Faulheit die Voraussetzungen der Sittlichkeit?
102.
Die ältesten moralischen Urtheile. — Wie machen wir es doch bei der Handlung eines Menschen in unsrer Nähe? — Zunächst sehen wir darauf hin, was aus ihr für uns herauskommt, — wir sehen sie nur unter diesem Gesichtspunct. Diese Wirkung nehmen wir als die Absicht der Handlung — und endlich legen wir ihm das Haben solcher Absichten als dauernde Eigenschaft bei und nennen ihn zum Beispiel von nun an „einen schädlichen Menschen“. Dreifache Irrung! Dreifacher uralter Fehlgriff! Vielleicht unsre Erbschaft von den Thieren und ihrer Urtheilskraft her! Ist nicht der Ursprung aller Moral in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen: „was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohlthuendes und Nutzenbringendes); was mir einmal oder einigemale schadet, das ist das Feindliche an sich und in sich; was mir einmal oder einigemale nützt, das ist das Freundliche an sich und in sich.“ O pudenda origo! Heisst das nicht: die erbärmliche, gelegentliche, oft zufällige Relation eines Anderen zu uns als sein Wesen und Wesentlichstes auszudichten, und zu behaupten, er sei gegen alle Welt und gegen sich selber eben nur solcher Relationen fähig, dergleichen wir ein- oder einigemal erlebt haben? Und sitzt hinter dieser wahren Narrheit nicht noch der unbescheidenste aller Hintergedanken, dass wir selber das Princip des Guten sein müssen, weil sich Gutes und Böses nach uns bemisst? —
103.
Es giebt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. — „Die Sittlichkeit leugnen“ — das kann einmal heissen: leugnen, dass die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, — es ist also die Behauptung, dass die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. Sodann kann es heissen: leugnen, dass die sittlichen Urtheile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, dass sie Motive des Handelns wirklich sind, dass aber auf diese Weise Irrthümer, als Grund alles sittlichen Urtheilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Diess ist mein Gesichtspunct: doch möchte ich am wenigsten verkennen, dass in sehr vielen Fällen ein feines Misstrauen nach Art des ersten Gesichtspunctes, also im Geiste des La Rochefoucauld, auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. — Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heisst, ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. — Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, dass zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern dass es einen Grund in der Wahrheit giebt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht — vorausgesetzt, dass ich kein Narr bin —, dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, — aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, — um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen.
104.
Unsere Werthschätzungen. — Alle Handlungen gehen auf Werthschätzungen zurück, alle Werthschätzungen sind entweder eigene oder angenommene, — letztere bei Weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht, — das heisst: wir halten es für rathsamer, uns so zu stellen, als ob sie auch die unsrigen wären — und gewöhnen uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Werthschätzung: das will besagen, eine Sache in Bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem Anderen Lust oder Unlust macht, — etwas äusserst Seltenes! — Aber wenigstens muss doch unsre Werthschätzung des Anderen, in der das Motiv dafür liegt, dass wir uns in den meisten Fällen seiner Werthschätzung bedienen, von uns ausgehen, unsere eigene Bestimmung sein? Ja, aber als Kinder machen wir sie, und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urtheile, in der Art, wie wir über unsre Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit) urtheilen und es nöthig finden, vor ihren Werthschätzungen zu huldigen.
105.
Der Schein-Egoismus. — Die Allermeisten, was sie auch immer von ihrem „Egoismus“ denken und sagen mögen, thun trotzdem ihr Lebenlang Nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgetheilt hat, — in Folge dessen leben sie Alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Werthschätzungen, Einer immer im Kopfe des Andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen: eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen Anschein zu geben weiss! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt; in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urtheile über „den Menschen“ — alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstractum „Mensch“, das heisst, an eine Fiction; und jede Veränderung, die mit diesem Abstractum vorgenommen wird, durch die Urtheile einzelner Mächtiger (wie Fürsten und Philosophen), wirkt ausserordentlich und in unvernünftigem Maasse auf die grosse Mehrzahl, — Alles aus dem Grunde, dass jeder Einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiction entgegenzustellen und sie damit zu vernichten vermag.
106.
Gegen die Definitionen der moralischen Ziele. — Man hört allerwärts jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt: es sei die Erhaltung und Förderung der Menschheit; aber das heisst eine Formel haben wollen und weiter Nichts. Erhaltung, worin? muss man sofort dagegen fragen, Förderung wohin? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin? und Wohin? in der Formel ausgelassen? Was lässt sich also mit ihr für die Pflichtenlehre festsetzen, was nicht schon, stillschweigend und gedankenlos, jetzt als festgesetzt gilt! Kann man aus ihr genügend absehen, ob man eine möglichst lange Existenz der Menschheit in’s Auge zu fassen habe? Oder die möglichste Entthierung der Menschheit? Wie verschieden würden in beiden Fällen die Mittel, das heisst die praktische Moral, sein müssen! Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit geben: diess hiesse gewiss nicht ihr die höchste ihr mögliche Dauer verbürgen! Oder gesetzt, man dächte an ihr „höchstes Glück“ als das Wohin und Worin: meint man dann den höchsten Grad, den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten? Oder eine, übrigens gar nicht zu berechnende letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit Aller? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin? Ist nicht durch sie, im Grossen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen aufgethan worden, dass man eher urtheilen könnte, mit jeder Verfeinerung der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und mit seinem Loose des Daseins unzufriedener geworden? Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit?
107.
Unser Anrecht auf unsere Thorheit. — Wie soll man handeln? Wozu soll man handeln? — Bei den nächsten und gröbsten Bedürfnissen des Einzelnen beantworten sich diese Fragen leicht genug, aber in je feinere, umfänglichere und wichtigere Gebiete des Handelns man aufsteigt, um so unsicherer, folglich um so willkürlicher wird die Beantwortung sein. Nun aber soll hier gerade die Willkürlichkeit der Entscheidungen ausgeschlossen sein! — so heischt es die Autorität der Moral: eine unklare Angst und Ehrfurcht soll den Menschen unverzüglich gerade bei jenen Handlungen leiten, deren Zwecke und Mittel ihm am wenigsten sofort deutlich sind! Diese Autorität der Moral unterbindet das Denken, bei Dingen, wo es gefährlich sein könnte, falsch zu denken —: dergestalt pflegt sie sich vor ihren Anklägern zu rechtfertigen. Falsch: das heisst hier „gefährlich“, — aber gefährlich für wen? Gewöhnlich ist es eigentlich nicht die Gefahr des Handelnden, welche die Inhaber der autoritativen Moral im Auge haben, sondern ihre Gefahr, ihre mögliche Einbusse an Macht und Geltung, sobald das Recht, willkürlich und thöricht, nach eigener, kleiner oder grosser Vernunft zu handeln, Allen zugestanden wird: für sich selber nämlich machen sie unbedenklich Gebrauch von dem Rechte der Willkürlichkeit und Thorheit, — sie befehlen, auch wo die Fragen „wie soll ich handeln? wozu soll ich handeln?“ kaum oder schwierig genug zu beantworten sind. — Und wenn die Vernunft der Menschheit so ausserordentlich langsam wächst, dass man dieses Wachsthum für den ganzen Gang der Menschheit oft geleugnet hat: was trägt mehr die Schuld daran, als diese feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Befehle, welche der individuellen Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar nicht gestattet, laut zu werden? Sind wir nicht daraufhin erzogen, gerade dann pathetisch zu fühlen und uns in’s Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte! Nämlich bei allen höheren und wichtigeren Angelegenheiten.
108.
Einige Thesen. — Dem Individuum, sofern es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, Jedermann unbekannten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von Aussen her nur verhindert, gehemmt werden. — Die Vorschriften, welche man „moralisch“ nennt, sind in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen durchaus nicht deren Glück. Ebenso wenig beziehen sich diese Vorschriften auf das „Glück und die Wohlfahrt der Menschheit,“ — mit welchen Worten strenge Begriffe zu verbinden überhaupt nicht möglich ist, geschweige dass man sie als Leitsterne auf dem dunklen Ozean moralischer Bestrebungen gebrauchen könnte. — Es ist nicht wahr, dass die Moralität, wie das Vorurtheil will, der Entwickelung der Vernunft günstiger sei als die Unmoralität. — Es ist nicht wahr, dass das unbewusste Ziel in der Entwickelung jedes bewussten Wesens (Thier, Mensch, Menschheit u.s.w.) sein „höchstes Glück“ sei: vielmehr giebt es auf allen Stufen der Entwickelung ein besonderes und unvergleichbares, weder höheres noch niederes, sondern eben eigenthümliches Glück zu erlangen. Entwickelung will nicht Glück, sondern Entwickelung und weiter Nichts. — Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel hätte, könnte man vorschlagen „so und so soll gehandelt werden“: einstweilen giebt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral nicht in Beziehung zur Menschheit setzen, es ist diess Unvernunft und Spielerei. — Der Menschheit ein Ziel anempfehlen ist etwas ganz Anderes: dann ist das Ziel als Etwas gedacht, das in unserem Belieben ist; gesetzt, es beliebte der Menschheit so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich daraufhin auch ein Moralgesetz geben, ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher sollte das Moralgesetz über dem Belieben stehen: man wollte diess Gesetz sich nicht eigentlich geben, sondern es irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher es sich befehlen lassen.
109.
Selbst-Beherrschung und Mässigung und ihr letztes Motiv. — Ich finde nicht mehr als sechs wesentlich verschiedene Methoden, um die Heftigkeit eines Triebes zu bekämpfen. Einmal kann man den Anlässen zur Befriedigung des Triebes ausweichen und durch lange und immer längere Zeitstrecken der Nichtbefriedigung ihn schwächen und abdorren machen. Sodann kann man eine strenge regelmässige Ordnung in seiner Befriedigung sich zum Gesetz machen; indem man in ihn selber auf diese Weise eine Regel bringt und seine Fluth und Ebbe in feste Zeitgränzen einschliesst, hat man Zwischenzeiten gewonnen, wo er nicht mehr stört, — und von da aus kann man vielleicht zur ersten Methode übergehen. Drittens kann man sich absichtlich einer wilden und unbändigen Befriedigung eines Triebes überlassen, um den Ekel davon einzuernten und mit dem Ekel eine Macht über den Trieb zu erlangen: vorausgesetzt, dass man es nicht dem Reiter gleich thut, der sein Pferd zu Tode hetzt und selber dabei den Hals bricht, — was leider die Regel bei diesem Versuche ist. Viertens giebt es einen intellectuellen Kunstgriff, nämlich mit der Befriedigung überhaupt irgend einen sehr peinlichen Gedanken so fest zu verbinden, dass, nach einiger Übung, der Gedanke der Befriedigung immer sogleich selber als sehr peinlich empfunden wird (zum Beispiel wenn der Christ sich gewöhnt, an die Nähe und den Hohn des Teufels beim Geschlechtsgenusse, oder an ewige Höllenstrafen für einen Mord aus Rache, oder auch nur an die Verächtlichkeit zu denken, welche zum Beispiel einem Geld-Diebstahl im Auge der von ihm verehrtesten Menschen folgt, oder wenn Mancher schon zu hundert Malen einem heftigen Verlangen nach dem Selbstmord die Vorstellung des Jammers und der Selbstvorwürfe von Verwandten und Freunden entgegengestellt und damit sich auf der Schwebe des Lebens erhalten hat: — jetzt folgen diese Vorstellungen in ihm auf einander, wie Ursache und Wirkung). Hierhin gehört es auch, wenn der Stolz des Menschen, wie zum Beispiel bei Lord Byron und Napoleon, sich aufbäumt, und das Übergewicht eines einzelnen Affectes über die gesammte Haltung und die Ordnung der Vernunft als Beleidigung empfindet: woraus dann die Gewohnheit und die Lust entsteht, den Trieb zu tyrannisiren und ihn gleichsam knirschen zu machen. („Ich will nicht der Sclave irgend eines Appetites sein“ — schrieb Byron in sein Tagebuch.) Fünftens: man nimmt eine Dislocation seiner Kraftmengen vor, indem man sich irgend eine besonders schwere und anstrengende Arbeit auferlegt oder sich absichtlich einem neuen Reize und Vergnügen unterwirft und dergestalt Gedanken und physisches Kräftespiel in andere Bahnen lenkt. Eben darauf läuft es auch hinaus, wenn man einen anderen Trieb zeitweilig begünstigt, ihm reiche Gelegenheit der Befriedigung giebt und ihn so zum Verschwender jener Kraft macht, über welche sonst der durch seine Heftigkeit lästig gewordene Trieb gebieten würde. Dieser oder Jener versteht es wohl auch, den einzelnen Trieb, der den Gewaltherrn spielen möchte, dadurch im Zaume zu halten, dass er allen seinen ihm bekannten anderen Trieben eine zeitweilige Aufmunterung und Festzeit giebt und sie das Futter aufzehren heisst, welches der Tyrann für sich allein haben will. Endlich sechstens: wer es aushält und vernünftig findet, seine gesammte leibliche und seelische Organisation zu schwächen und niederzudrücken, der erreicht natürlich das Ziel der Schwächung eines einzelnen heftigen Triebes ebenfalls damit: wie zum Beispiel Der thut, welcher seine Sinnlichkeit aushungert und dabei freilich auch seine Rüstigkeit und nicht selten seinen Verstand mit aushungert und zu Schanden macht, gleich dem Asketen. — Also: den Anlässen ausweichen, Regel in den Trieb hineinpflanzen, Übersättigung und Ekel an ihm erzeugen, und die Association eines quälenden Gedankens (wie den der Schande, der bösen Folgen oder des beleidigten Stolzes) zu Stande bringen, sodann die Dislocation der Kräfte und endlich die allgemeine Schwächung und Erschöpfung, — das sind die sechs Methoden: dass man aber überhaupt die Heftigkeit eines Triebes bekämpfen will, steht nicht in unserer Macht, ebenso wenig, auf welche Methode man verfällt, ebenso wenig, ob man mit dieser Methode Erfolg hat. Vielmehr ist unser Intellect bei diesem ganzen Vorgange ersichtlich nur das blinde Werkzeug eines anderen Triebes, welcher ein Rival dessen ist, der uns durch seine Heftigkeit quält: sei es der Trieb nach Ruhe oder die Furcht vor Schande und anderen bösen Folgen oder die Liebe. Während „wir“ uns also über die Heftigkeit eines Triebes zu beklagen meinen, ist es im Grunde ein Trieb, welcher über einen anderen klagt; das heisst: die Wahrnehmung des Leidens an einer solchen Heftigkeit setzt voraus, dass es einen ebenso heftigen oder noch heftigeren anderen Trieb giebt, und dass ein Kampf bevorsteht, in welchem unser Intellect Partei nehmen muss.
110.
Das, was sich widersetzt. — Man kann folgenden Vorgang an sich beobachten, und ich wollte, er würde oft beobachtet und bestätigt. Es entsteht in uns die Witterung einer Art von Lust, die wir noch nicht kannten, und folglich entsteht ein neues Verlangen. Nun kommt es darauf an, was diesem Verlangen sich widersetzt: sind es Dinge und Rücksichten gemeinerer Art, auch Menschen, welche wenig in unserer Achtung gelten, — so umkleidet sich das Ziel des neuen Verlangens mit der Empfindung „edel, gut, lobenswerth, opferwürdig,“ die ganze vererbte moralische Anlage nimmt es nunmehr in sich auf, legt es zu ihren als moralisch empfundenen Zielen — und jetzt meinen wir nicht mehr nach einer Lust, sondern nach einer Moralität zu streben: was die Zuversichtlichkeit unseres Strebens sehr vermehrt.
111.
An die Bewunderer der Objectivität. — Wer als Kind mannichfaltige und starke Gefühle, aber wenig feines Urtheil und Lust an der intellectualen Gerechtigkeit, bei den Verwandten und Bekannten, unter denen er aufwuchs, wahrgenommen und folglich im Nachbilden von Gefühlen seine beste Kraft und Zeit verbraucht hat: bemerkt als Erwachsener an sich, dass jedes neue Ding, jeder neue Mensch sofort Zuneigung oder Abneigung oder Neid oder Verachtung in ihm rege macht; unter dem Drucke dieser Erfahrung, gegen den er sich ohnmächtig fühlt, bewundert er die Neutralität der Empfindung, oder die „Objectivität“, wie ein Wunderding, als Sache des Genie’s oder der seltensten Moralität, und will nicht daran glauben, dass auch sie nur das Kind der Zucht und Gewohnheit ist.
112.
Zur Naturgeschichte von Pflicht und Recht. — Unsere Pflichten — das sind die Rechte Anderer auf uns. Wodurch haben sie diese erworben? Dadurch, dass sie uns für vertrags- und vergeltungsfähig nahmen, für gleich und ähnlich mit sich ansetzten, dass sie uns daraufhin Etwas anvertrauten, uns erzogen, zurechtwiesen, unterstützten. Wir erfüllen unsre Pflicht — das heisst: wir rechtfertigen jene Vorstellung von unserer Macht, auf welche hin uns Alles erwiesen wurde, wir geben zurück, in dem Maasse, als man uns gab. So ist es unser Stolz, der die Pflicht zu thun gebeut, — wir wollen unsre Selbstherrlichkeit wiederherstellen, wenn wir dem, was Andre für uns thaten, Etwas entgegenstellen, das wir für sie thun, — denn Jene haben damit in die Sphäre unserer Macht eingegriffen und würden dauernd ihre Hand in ihr haben, wenn wir nicht mit der „Pflicht“ eine Wiedervergeltung übten, das heisst in ihre Macht eingriffen. Nur auf Das, was in unsrer Macht steht, können sich die Rechte Anderer beziehen; es wäre unvernünftig, wenn sie Etwas von uns wollten, das uns selber nicht gehört. Genauer muss man sagen: nur auf Das, was sie meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht. Es könnte leicht auf beiden Seiten der gleiche Irrthum sein: das Gefühl der Pflicht hängt daran, dass wir in Bezug auf den Umkreis unserer Macht den selben Glauben haben, wie die Anderen: nämlich dass wir bestimmte Dinge versprechen, uns zu ihnen verpflichten können („Freiheit des Willens“). — Meine Rechte: das ist jener Theil meiner Macht, den mir die Anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen. Wie kommen diese Anderen dazu? Einmal: durch ihre Klugheit und Furcht und Vorsicht: sei es, dass sie etwas Ähnliches von uns zurückerwarten (Schutz ihrer Rechte), dass sie einen Kampf mit uns für gefährlich oder unzweckmässig halten, dass sie in jeder Verringerung unserer Kraft einen Nachtheil für sich erblicken, weil wir dann zum Bündniss mit ihnen im Gegensatz zu einer feindseligen dritten Macht ungeeignet werden. Sodann: durch Schenkung und Abtretung. In diesem Falle haben die Anderen Macht genug und übergenug, um davon abgeben zu können und das abgegebene Stück Dem, welchem sie es schenkten, zu verbürgen: wobei ein geringes Machtgefühl bei Dem, der sich beschenken lässt, vorausgesetzt wird. So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade. Verschieben sich die Machtverhältnisse wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sich neue, — diess zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen. Nimmt unsere Macht wesentlich ab, so verändert sich das Gefühl Derer, welche bisher unser Recht gewährleisteten: sie ermessen, ob sie uns wieder in den alten Vollbesitz bringen können, — fühlen sie sich hierzu ausser Stande, so leugnen sie von da an unsere „Rechte“. Ebenso, wenn unsere Macht erheblich zunimmt, verändert sich das Gefühl Derer, welche sie bisher anerkannten und deren Anerkennung wir nun nicht mehr brauchen: sie versuchen wohl, dieselbe auf das frühere Maass herabzudrücken, sie werden eingreifen wollen und sich auf ihre „Pflicht“ dabei berufen, — aber diess ist nur ein unnützes Wortemachen. Wo Recht herrscht, da wird ein Zustand und Grad von Macht aufrecht erhalten, eine Verminderung und Vermehrung abgewehrt. Das Recht Anderer ist die Concession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen Anderen. Wenn sich unsere Macht tief erschüttert und gebrochen zeigt, so hören unsere Rechte auf: dagegen hören, wenn wir sehr viel mächtiger geworden sind, die Rechte Anderer für uns auf, wie wir sie bis jetzt ihnen zugestanden. — Der „billige Mensch“ bedarf fortwährend des feinen Tactes einer Wage: für die Macht- und Rechtsgrade, welche, bei der vergänglichen Art der menschlichen Dinge, immer nur eine kurze Zeit im Gleichgewichte schweben werden, zumeist aber sinken oder steigen: — billig sein ist folglich schwer und erfordert viel Übung, <viel> guten Willen und sehr viel sehr guten Geist. —
113.
Das Streben nach Auszeichnung. — Das Streben nach Auszeichnung hat fortwährend ein Augenmerk auf den Nächsten und will wissen, wie es ihm zu Muthe ist: aber die Mitempfindung und das Mitwissen, welche dieser Trieb zu seiner Befriedigung nöthig hat, sind weit davon entfernt, harmlos oder mitleidig oder gütig zu sein. Man will vielmehr wahrnehmen oder errathen, wie der Nächste an uns äusserlich oder innerlich leidet, wie er die Gewalt über sich verliert und dem Eindrucke nachgiebt, den unsere Hand oder auch nur unser Anblick auf ihn machen; und selbst wenn der nach Auszeichnung Strebende einen freudigen, erhebenden oder erheiternden Eindruck macht und machen wollte, so geniesst er diesen Erfolg doch nicht, insofern er dabei den Nächsten erfreute, erhob, erheiterte, sondern insofern er sich der fremden Seele eindrückte, deren Form veränderte und nach seinem Willen über ihr waltete. Das Streben nach Auszeichnung ist das Streben nach Überwältigung des Nächsten, sei es auch eine sehr mittelbare und nur gefühlte oder gar erträumte. Es giebt eine lange Reihe von Graden dieser heimlich begehrten Überwältigung, und ein vollständiges Verzeichniss derselben käme beinahe einer Geschichte der Cultur gleich, von der ersten noch fratzenhaften Barbarei an bis zur Fratze der Überfeinerung und der krankhaften Idealität hinauf. Das Streben nach Auszeichnung bringt für den Nächsten mit sich — um nur einige Stufen dieser langen Leiter mit Namen zu nennen —: Martern, dann Schläge, dann Entsetzen, dann angstvolles Erstaunen, dann Verwunderung, dann Neid, dann Bewunderung, dann Erhebung, dann Freude, dann Heiterkeit, dann Lachen, dann Verlachen, dann Verspotten, dann Verhöhnen, dann Schläge-austheilen, dann Martern-anthun: — hier am Ende der Leiter steht der Asket und Märtyrer, er empfindet den höchsten Genuss dabei, eben Das als Folge seines Triebes nach Auszeichnung selber davon zu tragen, was sein Gegenbild auf der ersten Sprosse der Leiter, der Barbar, dem Anderen zu leiden giebt, an dem und vor dem er sich auszeichnen will. Der Triumph des Asketen über sich selber, sein dabei nach Innen gewendetes Auge, welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden zerspaltet sieht und fürderhin in die Aussenwelt nur hineinblickt, um aus ihr gleichsam Holz zum eigenen Scheiterhaufen zu sammeln, diese letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung, bei der es nur noch Eine Person giebt, welche in sich selber verkohlt, — das ist der würdige Abschluss, der zu dem Anfange gehört: beidemal ein unsägliches Glück beim Anblick von Martern! In der That, das Glück, als das lebendigste Gefühl der Macht gedacht, ist vielleicht auf der Erde nirgendwo grösser gewesen, als in den Seelen abergläubischer Asketen. Diess drücken die Brahmanen in der Geschichte vom König Viçvamitra aus, der aus tausendjährigen Bussübungen eine solche Kraft schöpfte, dass er es unternahm, einen neuen Himmel zu erbauen. Ich glaube, in dieser ganzen Gattung innerer Erlebnisse sind wir jetzt grobe Neulinge und tastende Räthselrather; vier Jahrtausende früher wusste man mehr von diesen verruchten Verfeinerungen des Selbstgenusses. Die Schöpfung der Welt: vielleicht, dass sie damals von einem indischen Träumer als eine asketische Procedur gedacht worden ist, welche ein Gott mit sich vornimmt! Vielleicht, dass der Gott sich in die bewegte Natur wie in ein Marterwerkzeug bannen wollte, um dabei seine Seligkeit und Macht verdoppelt zu fühlen! Und gesetzt, es wäre gar ein Gott der Liebe: welcher Genuss für einen solchen, leidende Menschen zu schaffen, an der ungestillten Marter im Anblick derselben recht göttlich und übermenschlich zu leiden und sich dergestalt selber zu tyrannisiren! Und gar gesetzt, es wäre nicht nur ein Gott der Liebe, sondern auch ein Gott der Heiligkeit und Sündlosigkeit: welche Delirien des göttlichen Asketen sind zu ahnen, wenn er Sünde und Sünder und ewige Verdammnisse und unter seinem Himmel und Throne eine ungeheure Stätte der ewigen Qual und des ewigen Stöhnens und Seufzens schafft! — Es ist nicht ganz unmöglich, dass auch die Seelen des Paulus, des Dante, des Calvin und ihres Gleichen einmal in die schauerlichen Geheimnisse solcher Wollüste der Macht eingedrungen sind; — und angesichts solcher Seelen kann man fragen: ja, ist denn wirklich der Kreislauf im Streben nach Auszeichnung mit dem Asketen am letzten Ende angelangt und in sich abgerollt? Könnte dieser Kreis nicht noch einmal von Anfang an durchlaufen werden, mit der festgehaltenen Grundstimmung des Asketen und zugleich des mitleidenden Gottes? Also Anderen wehe thun, um sich dadurch wehe zu thun, um damit wiederum über sich und sein Mitleiden zu triumphiren und in der äussersten Macht zu schwelgen! — Verzeihung für die Ausschweifung im Nachdenken über Alles, was in der seelischen Ausschweifung des Machtgelüstes auf Erden schon möglich gewesen sein kann!
114.
Von der Erkenntniss des Leidenden. — Der Zustand kranker Menschen, die lange und furchtbar von ihren Leiden gemartert werden und deren Verstand trotzdem dabei sich nicht trübt, ist nicht ohne Werth für die Erkenntniss, — noch ganz abgesehen von den intellectuellen Wohlthaten, welche jede tiefe Einsamkeit, jede plötzliche und erlaubte Freiheit von allen Pflichten und Gewohnheiten mit sich bringen. Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte hinaus auf die Dinge: alle jene kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn das Auge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden: ja, er selber liegt vor sich da ohne Flaum und Farbe. Gesetzt, dass er bisher in irgend einer gefährlichen Phantasterei lebte: diese höchste Ernüchterung durch Schmerzen ist das Mittel, ihn herauszureissen: und vielleicht das einzige Mittel. (Es ist möglich, dass diess dem Stifter des Christenthums am Kreuze begegnete: denn die bittersten aller Worte „mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ enthalten, in aller Tiefe verstanden, wie sie verstanden werden dürfen, das Zeugniss einer allgemeinen Enttäuschung und Aufklärung über den Wahn seines Lebens; er wurde in dem Augenblicke der höchsten Qual hellsichtig über sich selber, so wie der Dichter es von dem armen sterbenden Don Quixote erzählt.) Die ungeheure Spannung des Intellectes, welcher dem Schmerz Widerpart halten will, macht, dass Alles, worauf er nun blickt, in einem neuen Lichte leuchtet: und der unsägliche Reiz, den alle neuen Beleuchtungen geben, ist oft mächtig genug, um allen Anlockungen zum Selbstmorde Trotz zu bieten und das Fortleben dem Leidenden als höchst begehrenswerth erscheinen zu lassen. Mit Verachtung gedenkt er der gemüthlichen warmen Nebelwelt, in der der Gesunde ohne Bedenken wandelt; mit Verachtung gedenkt er der edelsten und geliebtesten Illusionen, in denen er früher mit sich selber spielte; er hat einen Genuss daran, diese Verachtung wie aus der tiefsten Hölle heraufzubeschwören und der Seele so das bitterste Leid zu machen: durch dieses Gegengewicht hält er eben dem physischen Schmerze Stand, — er fühlt es, dass gerade diess Gegengewicht jetzt noththut! In einer schauerlichen Hellsichtigkeit über sein Wesen ruft er sich zu: „sei einmal dein eigener Ankläger und Henker, nimm einmal dein Leiden als die von dir über dich verhängte Strafe! Geniesse deine Überlegenheit als Richter; mehr noch: geniesse dein Belieben, deine tyrannische Willkür! Erhebe dich über dein Leben wie über dein Leiden, sieh hinab in die Gründe und die Grundlosigkeit!“ Unser Stolz bäumt sich auf, wie noch nie: es hat für ihn einen Reiz ohne Gleichen, gegen einen solchen Tyrannen wie der Schmerz ist, und gegen alle die Einflüsterungen, die er uns macht, damit wir gegen das Leben Zeugniss ablegen, — gerade das Leben gegen den Tyrannen zu vertreten. In diesem Zustande wehrt man sich mit Erbitterung gegen jeden Pessimismus, damit er nicht als Folge unseres Zustandes erscheine und uns als Besiegte demüthige. Nie ist ebenfalls der Reiz, Gerechtigkeit des Urtheils zu üben, grösser, als jetzt, denn jetzt ist es ein Triumph über uns und den reizbarsten aller Zustände, der jede Ungerechtigkeit des Urtheils entschuldbar machen würde; — aber wir wollen nicht entschuldigt sein, gerade jetzt wollen wir zeigen, dass wir „ohne Schuld“ sein können. Wir befinden uns in förmlichen Krämpfen des Hochmuths. — Und nun kommt der erste Dämmerschein der Milderung, der Genesung — und fast die erste Wirkung ist, dass wir uns gegen die Übermacht unseres Hochmuthes wehren: wir nennen uns darin albern und eitel, — als ob wir Etwas erlebt hätten, das einzig wäre! Wir demüthigen ohne Dankbarkeit den allmächtigen Stolz, durch den wir eben den Schmerz ertrugen und verlangen heftig nach einem Gegengift des Stolzes: wir wollen uns entfremdet und entpersönlicht werden, nachdem der Schmerz uns zu gewaltsam und zu lange persönlich gemacht hatte. „Weg, weg mit diesem Stolze! rufen wir, er war eine Krankheit und ein Krampf mehr!“ Wir sehen wieder hin auf Menschen und Natur — mit einem verlangenderen Auge: wir erinnern uns wehmüthig lächelnd, dass wir Einiges in Bezug auf sie jetzt neu und anders wissen, als vorher, dass ein Schleier gefallen ist, — aber es erquickt uns so, wieder die gedämpften Lichter des Lebens zu sehen und aus der furchtbaren nüchternen Helle herauszutreten, in welcher wir als Leidende die Dinge und durch die Dinge hindurch sahen. Wir zürnen nicht, wenn die Zaubereien der Gesundheit wieder zu spielen beginnen, — wir sehen wie umgewandelt zu, milde und immer noch müde. In diesem Zustande kann man nicht Musik hören, ohne zu weinen. —
115.
Das sogenannte „Ich“. — Die Sprache und die Vorurtheile, auf denen die Sprache aufgebaut ist, sind uns vielfach in der Ergründung innerer Vorgänge und Triebe hinderlich: zum Beispiel dadurch, dass eigentlich Worte allein für superlativische Grade dieser Vorgänge und Triebe da sind —; nun aber sind wir gewohnt, dort, wo uns Worte fehlen, nicht mehr genau zu beobachten, weil es peinlich ist, dort noch genau zu denken; ja, ehedem schloss man unwillkürlich, wo das Reich der Worte aufhöre, höre auch das Reich des Daseins auf. Zorn, Hass, Liebe, Mitleid, Begehren, Erkennen, Freude, Schmerz, — das sind Alles Namen für extreme Zustände: die milderen mittleren und gar die immerwährend spielenden niederen Grade entgehen uns, und doch weben sie gerade das Gespinnst unseres Charakters und Schicksals. Jene extremen Ausbrüche — und selbst das mässigste uns bewusste Wohlgefallen oder Missfallen beim Essen einer Speise, beim Hören eines Tones ist vielleicht immer noch, richtig abgeschätzt, ein extremer Ausbruch — zerreissen sehr oft das Gespinnst und sind dann gewaltthätige Ausnahmen, zumeist wohl in Folge von Aufstauungen: — und wie vermögen sie als solche den Beobachter irre zu führen! Nicht weniger, als sie den handelnden Menschen in die Irre führen. Wir sind Alle nicht Das, als was wir nach den Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewusstsein und Worte — und folglich Lob und Tadel — haben; wir verkennen uns nach diesen gröberen Ausbrüchen, die uns allein bekannt werden, wir machen einen Schluss aus einem Material, in welchem die Ausnahmen die Regel überwiegen, wir verlesen uns in dieser scheinbar deutlichsten Buchstabenschrift unseres Selbst. Unsere Meinung über uns aber, die wir auf diesem falschen Wege gefunden haben, das sogenannte „Ich“, arbeitet fürderhin mit an unserem Charakter und Schicksal. —
116.
Die unbekannte Welt des „Subjects“. — Das, was den Menschen so schwer zu begreifen fällt, ist ihre Unwissenheit über sich selber, von den ältesten Zeiten bis jetzt! Nicht nur in Bezug auf gut und böse, sondern in Bezug auf viel Wesentlicheres! Noch immer lebt der uralte Wahn, dass man wisse, ganz genau wisse, wie das menschliche Handeln zu Stande komme, in jedem Falle. Nicht nur „Gott, der in’s Herz sieht“, nicht nur der Thäter, der seine That überlegt, — nein, auch jeder Andere zweifelt nicht, das Wesentliche im Vorgange der Handlung jedes Andern zu verstehen. „Ich weiss, was ich will, was ich gethan habe, ich bin frei und verantwortlich dafür, ich mache den Andern verantwortlich, ich kann alle sittlichen Möglichkeiten und alle inneren Bewegungen, die es vor einer Handlung giebt, beim Namen nennen; ihr mögt handeln, wie ihr wollt, — ich verstehe darin mich und euch Alle!“ — so dachte ehemals Jeder, so denkt fast noch Jeder. Sokrates und Plato, in diesem Stücke grosse Zweifler und bewunderungswürdige Neuerer, waren doch harmlos gläubig in Betreff jenes verhängnissvollsten Vorurtheils, jenes tiefsten Irrthums, dass „der richtigen Erkenntniss die richtige Handlung folgen müsse“, — sie waren in diesem Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dünkels: dass es ein Wissen um das Wesen einer Handlung gebe. „Es wäre ja schrecklich, wenn der Einsicht in das Wesen der rechten That nicht die rechte That folgte“, — diess ist die einzige Art, wie jene Grossen diesen Gedanken zu beweisen für nöthig hielten, das Gegentheil schien ihnen undenkbar und toll — und doch ist diess Gegentheil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und stündlich bewiesene Wirklichkeit! Ist es nicht gerade die „schreckliche“ Wahrheit: dass, was man von einer That überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu thun, dass die Brücke von der Erkenntniss zur That in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind niemals Das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, — nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso! Die moralischen Handlungen sind in Wahrheit „etwas Anderes“, — mehr können wir nicht sagen: und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt. Das Gegentheil war und ist der allgemeine Glaube: wir haben den ältesten Realismus gegen uns; bis jetzt dachte die Menschheit: „eine Handlung ist Das, als was sie uns erscheint.“ (Beim Wiederlesen dieser Worte kommt mir eine sehr ausdrückliche Stelle Schopenhauer’s in’s Gedächtniss, welche ich anführen will, zum Beweise, dass auch er noch, und zwar ohne jeden Scrupel, in diesem moralischen Realismus hängt und hängen geblieben ist: „wirklich ist Jeder von uns ein competenter und vollkommen moralischer Richter, Gutes und Böses genau kennend, heilig, indem er das Gute liebt und das Böse verabscheut, — diess Alles ist Jeder, insofern nicht seine eigenen, sondern fremde Handlungen untersucht werden und er blos zu billigen und zu missbilligen hat, die Last der Ausführung aber von fremden Schultern getragen wird. Jeder kann demnach als Beichtiger ganz und gar die Stelle Gottes vertreten.“)
117.
Im Gefängniss. — Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Verhängniss, dem ich nicht entlaufen kann. Um jedes Wesen legt sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunct hat und der ihm eigenthümlich ist. Ähnlich schliesst uns das Ohr in einen kleinen Raum ein, ähnlich das Getast. Nach diesen Horizonten, in welche, wie in Gefängnissmauern, Jeden von uns unsere Sinne einschliessen, messen wir nun die Welt, wir nennen Dieses nah und Jenes fern, Dieses gross und Jenes klein, Dieses hart und Jenes weich: diess Messen nennen wir Empfinden, — es sind Alles, Alles Irrthümer an sich! Nach der Menge von Erlebnissen und Erregungen, die uns durchschnittlich in einem Zeitpuncte möglich sind, misst man sein Leben, als kurz oder lang, arm oder reich, voll oder leer: und nach dem durchschnittlichen menschlichen Leben misst man das aller anderen Geschöpfe, — es sind Alles, Alles Irrthümer an sich! Hätten wir hundertfach schärfere Augen für die Nähe, so würde uns der Mensch ungeheuer lang erscheinen; ja, es sind Organe denkbar, vermöge deren er als unermesslich empfunden würde. Andererseits könnten Organe so beschaffen sein, dass ganze Sonnensysteme verengt und zusammengeschnürt gleich einer einzigen Zelle empfunden werden: und vor Wesen entgegengesetzter Ordnung könnte Eine Zelle des menschlichen Leibes sich als ein Sonnensystem in Bewegung, Bau und Harmonie darstellen. Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und „Erkenntnisse“, — es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt! Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in unserem Netze fangen lässt.
118.
Was ist denn der Nächste! — Was begreifen wir denn von unserem Nächsten, als seine Gränzen, ich meine, Das, womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt? Wir begreifen Nichts von ihm, als die Veränderungen an uns, deren Ursache er ist, — unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen geformten Raume. Wir legen ihm die Empfindungen bei, die seine Handlungen in uns hervorrufen, und geben ihm so eine falsche umgekehrte Positivität. Wir bilden ihn nach unserer Kenntniss von uns, zu einem Satelliten unseres eigenen Systems: und wenn er uns leuchtet oder sich verfinstert, und wir von Beidem die letzte Ursache sind, — so glauben wir doch das Gegentheil! Welt der Phantome, in der wir leben! Verkehrte, umgestülpte, leere, und doch voll und gerade geträumte Welt!
119.
Erleben und Erdichten. — Wie weit Einer seine Selbstkenntniss auch treiben mag, Nichts kann doch unvollständiger sein, als das Bild der gesammten Triebe, die sein Wesen constituiren. Kaum dass er die gröberen beim Namen nennen kann: ihre Zahl und Stärke, ihre Ebbe und Fluth, ihr Spiel und Widerspiel unter einander, und vor Allem die Gesetze ihrer Ernährung bleiben ihm ganz unbekannt. Diese Ernährung wird also ein Werk des Zufalls: unsere täglichen Erlebnisse werfen bald diesem, bald jenem Triebe eine Beute zu, die er gierig erfasst, aber das ganze Kommen und Gehen dieser Ereignisse steht ausser allem vernünftigen Zusammenhang mit den Nahrungsbedürfnissen der gesammten Triebe: sodass immer Zweierlei eintreten wird, das Verhungern und Verkümmern der einen und die Überfütterung der anderen. Jeder Moment unseres Lebens lässt einige Polypenarme unseres Wesens wachsen und einige andere verdorren, je nach der Nahrung, die der Moment in sich oder nicht in sich trägt. Unsere Erfahrungen, wie gesagt, sind alle in diesem Sinne Nahrungsmittel, aber ausgestreut mit blinder Hand, ohne Wissen um den, der hungert, und den, der schon Überfluss hat. Und in Folge dieser zufälligen Ernährung der Theile wird der ganze ausgewachsene Polyp etwas ebenso Zufälliges sein, wie es sein Werden ist. Deutlicher gesprochen: gesetzt, ein Trieb befindet sich in dem Puncte, wo er Befriedigung begehrt — oder Übung seiner Kraft, oder Entladung derselben oder Sättigung einer Leere — es ist Alles Bilderrede —: so sieht er jedes Vorkommniss des Tages darauf an, wie er es zu seinem Zwecke brauchen kann; ob der Mensch nun läuft oder ruht oder zürnt oder liest oder spricht oder kämpft oder jubelt, der Trieb in seinem Durste betastet gleichsam jeden Zustand, in den der Mensch geräth, und durchschnittlich findet er Nichts für sich daran, er muss warten und weiter dürsten: eine Weile noch und dann wird er matt, und noch ein paar Tage oder Monate der Nicht-Befriedigung, dann dorrt er ab, wie eine Pflanze ohne Regen. Vielleicht würde diese Grausamkeit des Zufalls noch greller in die Augen fallen, wenn alle Triebe es so gründlich nehmen wollten, wie der Hunger: der sich nicht mit geträumter Speise zufrieden giebt; aber die meisten Triebe, namentlich die sogenannten moralischen, thun gerade diess, — wenn meine Vermuthung erlaubt ist, dass unsere Träume eben den Werth und Sinn haben, bis zu einem gewissen Grade jenes zufällige Ausbleiben der „Nahrung“ während des Tages, zu compensiren. Warum war der Traum von gestern voller Zärtlichkeit und Thränen, der von vorgestern scherzhaft und übermüthig, ein früherer abenteuerlich und in einem beständigen düsteren Suchen? Wesshalb geniesse ich in diesem unbeschreibliche Schönheiten der Musik, wesshalb schwebe und fliege ich in einem anderen mit der Wonne eines Adlers hinauf nach fernen Bergspitzen? Diese Erdichtungen, welche unseren Trieben der Zärtlichkeit oder des Scherzes oder der Abenteuerlichkeit oder unserm Verlangen nach Musik und Gebirge Spielraum und Entladung geben — und Jeder wird seine schlagenderen Beispiele zur Hand haben —, sind Interpretationen unserer Nervenreize während des Schlafens, sehr freie, sehr willkürliche Interpretationen von Bewegungen des Blutes und der Eingeweide, vom Druck des Armes und der Decken, von den Tönen der Thurmglocken, der Wetterhähne, der Nachtschwärmer und anderer Dinge der Art. Dass dieser Text, der im Allgemeinen doch für eine Nacht wie für die andere sehr ähnlich bleibt, so verschieden commentirt wird, dass die dichtende Vernunft heute und gestern so verschiedene Ursachen für die selben Nervenreize sich vorstellt: das hat darin seinen Grund, dass der Souffleur dieser Vernunft heute ein anderer war, als er gestern war, — ein anderer Trieb wollte sich befriedigen, bethätigen, üben, erquicken, entladen, — gerade er war in seiner hohen Fluth, und gestern war ein anderer darin. — Das wache Leben hat nicht diese Freiheit der Interpretation wie das träumende, es ist weniger dichterisch und zügellos, — muss ich aber ausführen, dass unsere Triebe im Wachen ebenfalls nichts Anderes thun, als die Nervenreize interpretiren und nach ihrem Bedürfnisse deren „Ursachen“ ansetzen? dass es zwischen Wachen und Träumen keinen wesentlichen Unterschied giebt? dass selbst bei einer Vergleichung sehr verschiedener Culturstufen die Freiheit der wachen Interpretation in der einen der Freiheit der anderen im Träumen Nichts nachgiebt? dass auch unsere moralischen Urtheile und Werthschätzungen nur Bilder und Phantasien über einen uns unbekannten physiologischen Vorgang sind, eine Art angewöhnter Sprache, gewisse Nervenreize zu bezeichnen? dass all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist? — Man nehme ein kleines Erlebniss. Gesetzt, wir bemerken eines Tages, dass Jemand auf dem Markte über uns lacht, da wir vorübergehen: jenachdem dieser oder jener Trieb in uns gerade auf seiner Höhe ist, wird diess Ereigniss für uns diess oder das bedeuten, — und je nach der Art Mensch, die wir sind, ist es ein ganz verschiedenes Ereigniss. Der Eine nimmt es hin wie einen Regentropfen, der Andere schüttelt es von sich wie ein Insect, Einer sucht daraus Händel zu machen, Einer prüft seine Kleidung, ob sie Anlass zum Lachen gebe, Einer denkt über das Lächerliche an sich in Folge davon nach, Einem thut es wohl, zur Heiterkeit und zum Sonnenschein der Welt, ohne zu wollen, einen Strahl gegeben zu haben — und in jedem Falle hat ein Trieb seine Befriedigung daran, sei es der des Ärgers oder der Kampflust oder des Nachdenkens oder des Wohlwollens. Dieser Trieb ergriff das Vorkommniss wie seine Beute: warum er gerade? Weil er durstig und hungernd auf der Lauer lag. — Neulich Vormittags um elf Uhr fiel unmittelbar und senkrecht vor mir ein Mann plötzlich zusammen, wie vom Blitz getroffen, alle Weiber der Umgebung schrieen laut auf; ich selber stellte ihn auf seine Füsse und wartete ihn ab, bis die Sprache sich wieder einstellte, — während dem regte sich bei mir kein Muskel des Gesichts und kein Gefühl, weder das des Schreckens, noch das des Mitleidens, sondern ich that das Nächste und Vernünftigste und gieng kalt fort. Gesetzt, man hätte mir Tags vorher angekündigt, dass morgen um elf Uhr Jemand neben mir in dieser Weise niederstürzen werde, — ich hätte Qualen aller Art vorher gelitten, die Nacht nicht geschlafen und wäre vielleicht im entscheidenden Augenblick dem Manne gleich geworden, anstatt ihm zu helfen. Inzwischen hätten nämlich alle möglichen Triebe Zeit gehabt, das Erlebniss sich vorzustellen und zu commentiren. — Was sind denn unsere Erlebnisse? Viel mehr Das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt! Oder muss es gar heissen: an sich liegt Nichts darin? Erleben ist ein Erdichten? —
120.
Zur Beruhigung des Skeptikers. — „Ich weiss durchaus nicht, was ich thue! Ich weiss durchaus nicht, was ich thun soll!“ — Du hast Recht, aber zweifle nicht daran: du wirst gethan! in jedem Augenblicke! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer.
121.
„Ursache und Wirkung“! — Auf diesem Spiegel — und unser Intellect ist ein Spiegel — geht Etwas vor, das Regelmässigkeit zeigt, ein bestimmtes Ding folgt jedesmal wieder auf ein anderes bestimmtes Ding, — das nennen wir, wenn wir es wahrnehmen und nennen wollen, Ursache und Wirkung, wir Thoren! Als ob wir da irgend Etwas begriffen hätten und begreifen könnten! Wir haben ja Nichts gesehen, als die Bilder von „Ursachen und Wirkungen“! Und eben diese Bildlichkeit macht ja die Einsicht in eine wesentlichere Verbindung, als die der Aufeinanderfolge ist, unmöglich!
122.
Die Zwecke in der Natur. — Wer, als unbefangener Forscher, der Geschichte des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muss zu dem grossen Ergebniss kommen: dass das Sehen nicht die Absicht bei der Entstehung des Auges gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als der Zufall den Apparat zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel: und die „Zwecke“ fallen uns wie Schuppen von den Augen!
123.
Vernunft. — Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist? Wie billig, auf eine unvernünftige Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn errathen müssen, wie ein Räthsel.
124.
Was ist Wollen! — Wir lachen über Den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: „ich will, dass die Sonne aufgehe“; und über Den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: „ich will, dass es rolle“; und über Den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: „hier liege ich, aber ich will hier liegen!“ Aber, trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders, als einer von diesen Dreien, wenn wir das Wort gebrauchen: „ich will“?
125.
Vom „Reiche der Freiheit“. — Wir können viel, viel mehr Dinge denken, als thun und erleben, — das heisst, unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja, es merkt sie nicht. Wäre unser Intellect streng nach dem Maasse unserer Kraft und unserer Übung der Kraft entwickelt, so würden wir den Grundsatz zu oberst in unserem Denken haben, dass wir nur begreifen können, was wir thun können, — wenn es überhaupt ein Begreifen giebt. Der Durstige entbehrt des Wassers, aber seine Gedankenbilder führen ihm unaufhörlich das Wasser vor die Augen, wie als ob Nichts leichter zu beschaffen wäre, — die oberflächliche und leicht zufriedengestellte Art des Intellectes kann das eigentliche nothleidende Bedürfniss nicht fassen und fühlt sich dabei überlegen: er ist stolz darauf, mehr zu können, schneller zu laufen, im Augenblick fast am Ziele zu sein, — und so erscheint das Reich der Gedanken im Vergleich mit dem Reiche des Thuns, Wollens und Erlebens als ein Reich der Freiheit: während es, wie gesagt, nur ein Reich der Oberfläche und der Genügsamkeit ist.
126.
Vergessen. — Dass es ein Vergessen giebt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorläufig haben wir in diese Lücke unserer Macht jenes Wort „Vergessen“ gesetzt: gleich als ob es ein Vermögen mehr im Register sei. Aber was steht zuletzt in unserer Macht! — Wenn jenes Wort in einer Lücke unserer Macht steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lücke unseres Wissens um unsere Macht stehen?
127.
Nach Zwecken. — Von allen Handlungen werden wohl am wenigsten die nach Zwecken verstanden, weil sie immer als die verständlichsten gegolten haben und für unser Bewusstsein das Alltäglichste sind. Die grossen Probleme liegen auf der Gasse.
128.
Der Traum und die Verantwortlichkeit. — In Allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Muthe! Nichts ist mehr euer Eigen, als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer, — in diesen Komödien seid ihr Alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Oedipus, der weise Oedipus wusste sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, dass wir Nichts für Das können, was wir träumen! Ich schliesse daraus: dass die grosse Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume bewusst sein muss. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den Hochmuth des Menschen ausgebeutet haben! — Muss ich hinzufügen, dass der weise Oedipus Recht hatte, dass wir wirklich nicht für unsere Träume, — aber ebenso wenig für unser Wachen verantwortlich sind, und dass die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage diess vielleicht zu oft: aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrthum.
129.
Der angebliche Kampf der Motive. — Man redet vom „Kampf der Motive“, aber bezeichnet damit einen Kampf, der nicht der Kampf der Motive ist. Nämlich: in unserm überlegenden Bewusstsein treten vor einer That der Reihe nach die Folgen verschiedener Thaten hervor, welche alle wir meinen thun zu können, und wir vergleichen diese Folgen. Wir meinen, zu einer That entschieden zu sein, wenn wir festgestellt haben, dass ihre Folgen die überwiegend günstigeren sein werden; ehe es zu diesem Abschluss unserer Erwägung kommt, quälen wir uns oft redlich, wegen der grossen Schwierigkeit, die Folgen zu errathen, sie in ihrer ganzen Stärke zu sehen und zwar alle, ohne Fehler der Auslassung zu machen: wobei die Rechnung überdiess noch mit dem Zufalle dividirt werden muss. Ja, um das Schwierigste zu nennen: alle die Folgen, die einzeln so schwer festzustellen sind, müssen nun mit einander auf Einer Wage gegen einander abgewogen werden; und so häufig fehlt uns für diese Casuistik des Vortheils die Wage nebst den Gewichten, wegen der Verschiedenheit in der Qualität aller dieser möglichen Folgen. Gesetzt aber, auch damit kämen wir in’s Reine, und der Zufall hätte uns gegenseitig abwägbare Folgen auf die Wage gelegt: so haben wir jetzt in der That im Bilde der Folgen Einer bestimmten Handlung ein Motiv, gerade diese Handlung zu thun, — ja! Ein Motiv! Aber im Augenblicke, da wir schliesslich handeln, werden wir häufig genug von einer anderen Gattung Motiven bestimmt, als es die hier besprochene Gattung, die des „Bildes der Folgen“, ist. Da wirkt die Gewohnheit unseres Kräftespiels, oder ein kleiner Anstoss von einer Person, die wir fürchten oder ehren oder lieben, oder die Bequemlichkeit, welche vorzieht, was vor der Hand liegt zu thun, oder die Erregung der Phantasie, durch das nächste beste kleinste Ereigniss im entscheidenden Augenblick herbeigeführt, es wirkt Körperliches, das ganz unberechenbar auftritt, es wirkt die Laune, es wirkt der Sprung irgend eines Affectes, der gerade zufällig bereit ist, zu springen: kurz, es wirken Motive, die wir zum Theil gar nicht, zum Theil sehr schlecht kennen und die wir nie vorher gegen einander in Rechnung setzen können. Wahrscheinlich, dass auch unter ihnen ein Kampf Statt findet, ein Hin- und Wegtreiben, ein Aufwiegen und Niederdrücken von Gewichttheilen — und diess wäre der eigentliche „Kampf der Motive“: — etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes. Ich habe die Folgen und Erfolge berechnet und damit Ein sehr wesentliches Motiv in die Schlachtreihe der Motive eingestellt, — aber diese Schlachtreihe selber stelle ich ebensowenig auf, als ich sie sehe: der Kampf selber ist mir verborgen, und der Sieg als Sieg ebenfalls; denn wohl erfahre ich, was ich schliesslich thue, — aber welches Motiv damit eigentlich gesiegt hat, erfahre ich nicht. Wohl aber sind wir gewohnt, alle diese unbewussten Vorgänge nicht in Anschlag zu bringen und uns die Vorbereitung einer That nur so weit zu denken, als sie bewusst ist: und so verwechseln wir den Kampf der Motive mit der Vergleichung der möglichen Folgen verschiedener Handlungen, — eine der folgenreichsten und für die Entwickelung der Moral verhängnissvollsten Verwechselungen!
130.
Zwecke? Willen? — Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufälle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne dass Jemand sagen könnte wesshalb? wozu? — Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der grossen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel: wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft todt getreten, — aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spinnennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz zerreisst, — nicht dass sie es gewollt hätten, diese Unvernünftigen! Nicht dass sie es nur merkten! Aber ihre groben Knochenhände greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wäre. — Die Griechen nannten diess Reich des Unberechenbaren und der erhabenen ewigen Bornirtheit Moira und stellten es als den Horizont um ihre Götter, über den sie weder hinauswirken, noch -sehen können: mit jenem heimlichen Trotz gegen die Götter, welcher bei mehreren Völkern sich vorfindet, in der Gestalt, dass man sie zwar anbetet, aber einen letzten Trumpf gegen sie in der Hand behält, zum Beispiel wenn man als Inder oder Perser sie sich abhängig vom Opfer der Sterblichen denkt, sodass die Sterblichen schlimmsten Falls die Götter hungern und verhungern lassen können; oder wenn man wie der harte melancholische Skandinavier mit der Vorstellung einer einstmaligen Götter-Dämmerung sich den Genuss der stillen Rache schafft, zum Entgelt für die beständige Furcht, welche seine bösen Götter ihm machen. Anders das Christenthum mit seinem weder indischen, noch persischen, noch griechischen, noch skandinavischen Grundgefühle, welches den Geist der Macht im Staube anbeten und den Staub noch küssen hiess: diess gab zu verstehen, dass jenes allmächtige „Reich der Dummheit“ nicht so dumm sei wie es aussehe, dass wir vielmehr die Dummen seien, die nicht merkten, dass hinter ihm — der liebe Gott stehe, er, der zwar die dunklen, krummen und wunderbaren Wege liebe, aber zuletzt doch Alles „herrlich hinausführe“. Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes — sodass sie demselben unverständlich, ja unverständig erscheinen müssten — diese Fabel war eine so kühne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, dass die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und widerspruchsvoll die Sache auch klang; — denn, im Vertrauen gesagt, es war ein Widerspruch darin: wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht errathen kann, woher errieth er diese Beschaffenheit seines Verstandes? und diese Beschaffenheit von Gottes Verstande? — In der neueren Zeit ist in der That das Misstrauen gross geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fällt, wirklich von der „göttlichen Liebe“ herabgeworfen werde — und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen- und Zwergen-Romantik zurückzugerathen. Lernen wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsere Zwecke und unsere Vernunft sind keine Zwerge, sondern Riesen! Und unsere eigenen Netze werden durch uns selber ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger Alles Wille, was Wille heisst! Und, wenn ihr schliessen wolltet: „es giebt also nur Ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit?“ — so ist hinzuzufügen: ja, vielleicht giebt es nur Ein Reich, vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da müssen Würfe vorkommen, die der Zweckässigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe — und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht! — Um über diess Vielleicht hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben.
131.
Die moralischen Moden. — Wie sich die moralischen Gesammt-Urtheile verschoben haben! Diese grössten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wussten Nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens an Andere, des Lebens für Andere; man würde sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften für ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den Anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht dass sie uns antworten würden: „habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder hässlichen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere mehr, als an euch! Ihr thut gut daran!“
132.
Die ausklingende Christlichkeit in der Moral. — „On n’est bon que par la pitié: il faut donc qu’il y ait quelque pitié dans tous nos sentiments“ — so klingt jetzt die Moral! Und woher kommt das? — Dass der Mensch der sympathischen, uninteressirten, gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen jetzt als der moralische empfunden wird, — das ist vielleicht die allgemeinste Wirkung und Umstimmung, welche das Christenthum in Europa hervorgebracht hat: obwohl sie weder seine Absicht, noch seine Lehre gewesen ist. Aber es war das residuum christlicher Stimmungen, als der sehr entgegengesetzte, streng egoistische Grundglaube an das „Eins ist noth“, an die absolute Wichtigkeit des ewigen persönlichen Heils, mit den Dogmen, auf denen er ruhte, allmählich zurücktrat, und der Nebenglaube an die „Liebe“, an die „Nächstenliebe“, zusammenstimmend mit der ungeheuren Praxis der kirchlichen Barmherzigkeit, dadurch in den Vordergrund gedrängt wurde. Je mehr man sich von den Dogmen loslöste, um so mehr suchte man gleichsam die Rechtfertigung dieser Loslösung in einem Cultus der Menschenliebe: hierin hinter dem christlichen Ideale nicht zurückzubleiben, sondern es womöglich zu überbieten, war ein geheimer Sporn bei allen französischen Freidenkern, von Voltaire bis auf Auguste Comte: und Letzterer hat mit seiner berühmten Moralformel vivre pour autrui in der That das Christenthum überchristlicht. Auf deutschem Boden hat Schopenhauer, auf englischem John Stuart Mill der Lehre von den sympathischen Affectionen und vom Mitleiden oder vom Nutzen Anderer als dem Princip des Handelns die meiste Berühmtheit gegeben: aber sie selber waren nur ein Echo, — jene Lehren sind mit einer gewaltigen Triebkraft überall und in den gröbsten und feinsten Gestalten zugleich aufgeschossen, ungefähr von der Zeit der französischen Revolution an, und alle socialistischen Systeme haben sich wie unwillkürlich auf den gemeinsamen Boden dieser Lehren gestellt. Es giebt vielleicht jetzt kein besser geglaubtes Vorurtheil, als diess: dass man wisse, was eigentlich das Moralische ausmache. Es scheint jetzt Jedermann wohlzuthun, wenn er hört, dass die Gesellschaft auf dem Wege sei, den Einzelnen den allgemeinen Bedürfnissen anzupassen und dass das Glück und zugleich das Opfer des Einzelnen darin liege, sich als ein nützliches Glied und Werkzeug des Ganzen zu fühlen: nur dass man gegenwärtig noch sehr schwankt, worin dieses Ganze zu suchen sei, ob in einem bestehenden oder zu begründenden Staate, oder in der Nation oder in einer Völker-Verbrüderung oder in kleinen neuen wirthschaftlichen Gemeinsamkeiten. Hierüber giebt es jetzt viel Nachdenken, Zweifeln, Kämpfen, viel Aufregung und Leidenschaft; aber wundersam und wohltönend ist die Eintracht in der Forderung, dass das ego sich zu verleugnen habe, bis es, in der Form der Anpassung an das Ganze, auch wieder seinen festen Kreis von Rechten und Pflichten bekomme, — bis es etwas ganz Neues und Anderes geworden sei. Man will nichts Geringeres — ob man es sich nun eingesteht oder nicht —, als eine gründliche Umbildung, ja Schwächung und Aufhebung des Individuums: man wird nicht müde, alles das Böse und Feindselige, das Verschwenderische, das Kostspielige, das Luxushafte in der bisherigen Form des individuellen Daseins aufzuzählen und anzuklagen, man hofft wohlfeiler, ungefährlicher, gleichmässiger, einheitlicher zu wirthschaften, wenn es nur noch grosse Körper und deren Glieder giebt. Als gut wird Alles empfunden, was irgendwie diesem körper- und gliederbildenden Triebe und seinen Hülfstrieben entspricht, diess ist der moralische Grundstrom in unserem Zeitalter; Mitempfindung und sociale Empfindung spielen dabei in einander über. (Kant steht noch ausserhalb dieser Bewegung: er lehrt ausdrücklich, dass wir gegen fremde Leiden unempfindlich sein müssen, wenn unser Wohlthun moralischen Werth haben soll, — was Schopenhauer, sehr ergrimmt, wie man begreifen wird, die Kantische Abgeschmacktheit nennt.)
133.
„Nicht mehr an sich denken.“ — Man überlege es sich doch recht gründlich: warum springt man Einem, der vor uns in’s Wasser fällt, nach, obschon man ihm gar nicht geneigt ist? Aus Mitleid: man denkt da nur noch an den Anderen, — sagt die Gedankenlosigkeit. Warum empfindet man Schmerz und Unbehagen mit Einem, der Blut speit, während man ihm sogar böse und feindlich gesinnt ist? Aus Mitleid: man denkt dabei eben nicht mehr an sich, — sagt die selbe Gedankenlosigkeit. Die Wahrheit ist: im Mitleid — ich meine in dem, was irreführender Weise gewöhnlich Mitleid genannt zu werden pflegt, — denken wir zwar nicht mehr bewusst an uns, aber sehr stark unbewusst, wie wenn wir beim Ausgleiten eines Fusses, für uns jetzt unbewusst, die zweckmässigsten Gegenbewegungen machen und dabei ersichtlich allen unseren Verstand gebrauchen. Der Unfall des Andern beleidigt uns, er würde uns unserer Ohnmacht, vielleicht unserer Feigheit überführen, wenn wir ihm nicht Abhülfe brächten. Oder er bringt schon an sich eine Verringerung unsrer Ehre vor Anderen oder vor uns selber mit sich. Oder es liegt im Unfalle und Leiden eines Anderen ein Fingerzeig der Gefahr für uns; und schon als Merkmale der menschlichen Gefährdetheit und Gebrechlichkeit überhaupt können sie auf uns peinlich wirken. Diese Art Pein und Beleidigung weisen wir zurück und vergelten sie durch eine Handlung des Mitleidens, in ihr kann eine feine Nothwehr oder auch Rache sein. Dass wir im Grunde stark an uns denken, lässt sich aus der Entscheidung errathen, welche wir in allen den Fällen treffen, wo wir dem Anblicke des Leidenden, Darbenden, Jammernden aus dem Wege gehen können: wir entschliessen uns, es nicht zu thun, wenn wir als die Mächtigeren, Helfenden hinzukommen können, des Beifalls sicher sind, unsern Glücks-Gegensatz empfinden wollen oder auch uns durch den Anblick aus der Langenweile herauszureissen hoffen. Es ist irreführend, das Leid, welches uns bei einem solchen Anblick angethan wird und das sehr verschiedener Art sein kann, Mit-Leid zu benennen, denn unter allen Umständen ist es ein Leid, von dem der vor uns Leidende frei ist: es ist uns zu eigen, wie ihm sein Leiden zu eigen ist. Nur dieses eigne Leid aber ist es, welches wir von uns abthun, wenn wir Handlungen des Mitleidens verüben. Doch thun wir Etwas der Art nie aus Einem Motive; so gewiss wir uns dabei von einem Leiden befreien wollen, so gewiss geben wir bei der gleichen Handlung einem Antriebe der Lust nach, — Lust entsteht beim Anblick eines Gegensatzes unsrer Lage, bei der Vorstellung, helfen zu können, wenn wir nur wollten, bei dem Gedanken an Lob und Erkenntlichkeit, im Falle wir hälfen, bei der Thätigkeit der Hülfe selber, insofern der Act gelingt und als etwas schrittweise Gelingendes dem Ausführenden an sich Ergötzen macht, namentlich aber in der Empfindung, dass unsere Handlung einer empörenden Ungerechtigkeit ein Ziel setzt (schon das Auslassen seiner Empörung erquickt). Diess Alles, Alles, und noch viel Feineres hinzugerechnet, ist „Mitleid“: — wie plump fällt die Sprache mit ihrem Einen Worte über so ein polyphones Wesen her! — Dass dagegen das Mitleiden einartig mit dem Leiden sei, bei dessen Anblick es entsteht, oder dass es ein besonders feines durchdringendes Verstehen für dasselbe habe, diess Beides widerspricht der Erfahrung, und wer es gerade in diesen beiden Hinsichten verherrlicht hat, dem fehlte eben auf diesem Bereiche des Moralischen die ausreichende Erfahrung. Das ist mein Zweifel bei all den unglaublichen Dingen, welche Schopenhauer vom Mitleide zu berichten weiss: er, der uns damit zum Glauben an seine grosse Neuigkeit bringen möchte, das Mitleiden — eben das von ihm so mangelhaft beobachtete, so schlecht beschriebene Mitleiden — sei die Quelle aller und jeder ehemaligen und zukünftigen moralischen Handlung — und gerade um der Fähigkeiten willen, die er ihm erst angedichtet hat. — Was unterscheidet schliesslich die Menschen ohne Mitleid von den mitleidigen? Vor Allem — um auch hier nur im Groben zu zeichnen — haben sie nicht die reizbare Phantasie der Furcht, das feine Vermögen der Witterung für Gefahr; auch ist ihre Eitelkeit nicht so schnell beleidigt, wenn Etwas geschieht, das sie verhindern könnten (ihre Vorsicht des Stolzes gebietet ihnen, sich nicht unnütz in fremde Dinge zu mischen, ja sie lieben es von sich selbst aus, dass Jeder sich selber helfe und seine eigenen Karten spiele). Zudem sind sie an das Ertragen von Schmerzen meistens gewöhnter, als die Mitleidigen; auch will es ihnen nicht so unbillig dünken, dass Andere leiden, da sie selber gelitten haben. Zuletzt ist ihnen der Zustand der Weichherzigkeit peinlich, wie den Mitleidigen der Zustand des stoischen Gleichmuthes; sie belegen ihn mit herabsetzenden Worten und meinen, dass ihre Männlichkeit und kalte Tapferkeit dabei in Gefahr sei, — sie verheimlichen die Thräne vor Anderen und wischen sie ab, unwillig über sich selber. Es ist eine andere Art von Egoisten, als die Mitleidigen; — sie aber im ausgezeichneten Sinne böse, und die Mitleidigen gut zu nennen, ist Nichts, als eine moralische Mode, welche ihre Zeit hat: wie auch die umgekehrte Mode ihre Zeit gehabt hat, und eine lange Zeit!
134.
In wie fern man sich vor dem Mitleiden zu hüten hat. — Das Mitleiden, sofern es wirklich Leiden schafft — und diess sei hier unser einziger Gesichtspunct —, ist eine Schwäche, wie jedes Sich-verlieren an einen schädigenden Affect. Es vermehrt das Leiden in der Welt: mag mittelbar auch hie und da in Folge des Mitleidens ein Leiden verringert oder gehoben werden, so darf man diese gelegentlichen und im Ganzen unbedeutenden Folgen nicht benutzen, um sein Wesen zu rechtfertigen, welches, wie gesagt, schädigend ist. Gesetzt, es herrschte auch nur Einen Tag: so gienge die Menschheit an ihm sofort zu Grunde. An sich hat es so wenig einen guten Charakter, wie irgend ein Trieb: erst dort, wo es gefordert und gelobt wird — und diess geschieht dort, wo man das Schädigende in ihm nicht begreift, aber eine Quelle der Lust darin entdeckt —, hängt sich ihm das gute Gewissen an, erst dann giebt man sich ihm gern hin und scheut nicht seine Kundgebung. Unter anderen Verhältnissen, wo begriffen wird, dass es schädigend ist, gilt es als Schwäche: oder, wie bei den Griechen, als ein krankhafter periodischer Affect, dem man durch zeitweilige willkürliche Entladungen seine Gefährlichkeit nehmen könne. — Wer einmal, versuchsweise, den Anlässen zum Mitleiden im praktischen Leben eine Zeitlang absichtlich nachgeht und sich alles Elend, dessen er in seiner Umgebung habhaft werden kann, immer vor die Seele stellt, wird unvermeidlich krank und melancholisch. Wer aber gar als Arzt in irgend einem Sinne der Menschheit dienen will, wird gegen jene Empfindung sehr vorsichtig werden müssen, — sie lähmt ihn in allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine hülfreiche feine Hand.
135.
Das Bemitleidetwerden. — Unter Wilden denkt man mit moralischem Schauder an’s Bemitleidetwerden: da ist man aller Tugend bar. Mitleid-gewähren heisst so viel wie Verachten: ein verächtliches Wesen will man nicht leiden sehen, es gewährt diess keinen Genuss. Dagegen einen Feind leiden zu sehen, den man als ebenbürtig-stolz anerkennt und der unter Martern seinen Stolz nicht preisgiebt, und überhaupt jedes Wesen, welches sich nicht zum Mitleid-Anrufen, das heisst zur schmählichsten und tiefsten Demüthigung verstehen will, — das ist ein Genuss der Genüsse, dabei erhebt sich die Seele des Wilden zur Bewunderung: er tödtet zuletzt einen solchen Tapferen, wenn er es in der Hand hat, und giebt ihm, dem Ungebrochenen, seine letzte Ehre: hätte er gejammert, den Ausdruck des kalten Hohnes aus dem Gesichte verloren, hätte er sich verächtlich gezeigt, — nun, so hätte er leben bleiben dürfen, wie ein Hund, — er hätte den Stolz des Zuschauenden nicht mehr gereizt und an Stelle der Bewunderung wäre Mitleiden getreten.
136.
Das Glück im Mitleiden. — Wenn man, wie die Inder, als Ziel der ganzen intellectuellen Thätigkeit die Erkenntniss des menschlichen Elendes aufstellt und durch viele Geschlechter des Geistes hindurch einem solchen entsetzlichen Vorsatze treu bleibt: so bekommt endlich, im Auge solcher Menschen des erblichen Pessimismus’, das Mitleiden einen neuen Werth, als lebenerhaltende Macht, um das Dasein doch auszuhalten, ob es gleich werth erscheint, vor Ekel und Grausen weggeworfen zu werden. Mitleiden wird das Gegenmittel gegen den Selbstmord, als eine Empfindung, welche Lust enthält und Überlegenheit in kleinen Dosen zu kosten giebt: es zieht von uns ab, macht das Herz voll, verscheucht die Furcht und die Erstarrung, regt zu Worten, Klagen und Handlungen an, — es ist verhältnissmässig ein Glück, gemessen am Elende der Erkenntniss, welche das Individuum von allen Seiten in die Enge und Dunkelheit treibt und ihm den Athem nimmt. Glück aber, welches es auch sei, giebt Luft, Licht und freie Bewegung.
137.
Warum das „Ich“ verdoppeln! — Unsere eigenen Erlebnisse mit dem Auge ansehen, mit dem wir sie anzusehen pflegen, wenn es die Erlebnisse Anderer sind, — diess beruhigt sehr und ist eine rathsame Medicin. Dagegen die Erlebnisse Anderer so ansehen und aufnehmen, wie als ob sie die unseren wären — die Forderung einer Philosophie des Mitleidens —, diess würde uns zu Grunde richten, und in sehr kurzer Zeit: man mache doch nur den Versuch damit und phantasire nicht länger! Gewiss ist ausserdem jene erste Maxime der Vernunft und dem guten Willen zur Vernünftigkeit gemässer, denn wir urtheilen über den Werth und Sinn eines Ereignisses objectiver, wenn es an Anderen hervortritt und nicht an uns: zum Beispiel über den Werth eines Sterbefalles, eines Geldverlustes, einer Verleumdung. Mitleiden als Princip des Handelns, mit der Forderung: leide <so an dem Übel des Andern, wie er selber> leidet, brächte dagegen mit sich, dass der Ich-Gesichtspunct, mit seiner Übertreibung und Ausschweifung, auch noch der Gesichtspunct des Anderen, des Mitleidenden, werden müsste: sodass wir an unserem Ich und am Ich des Anderen zugleich zu leiden hätten und uns derart freiwillig mit einer doppelten Unvernunft beschwerten, anstatt die Last der eigenen so gering wie möglich zu machen.
138.
Das Zärtlicherwerden. — Wenn wir Jemanden lieben, ehren, bewundern und nun, hinterher, finden, dass er leidet, — immer mit grossem Erstaunen, weil wir nicht anders denken, als dass unser von ihm herströmendes Glück aus einem überreichen Borne eigenen Glückes komme, — so ändert sich unser Gefühl der Liebe, Verehrung und Bewunderung in etwas Wesentlichem: es wird zärtlicher, das heisst: die Kluft zwischen ihm und uns scheint sich zu überbrücken, eine Annäherung an Gleichheit scheint Statt zu finden. Jetzt erst gilt es uns als möglich, ihm zurückgeben zu können, während er früher über unsere Dankbarkeit erhaben in unserer Vorstellung lebte. Es macht uns dieses Zurückgebenkönnen eine grosse Freude und Erhebung. Wir suchen zu errathen, was seinen Schmerz lindert, und geben ihm diess; will er tröstliche Worte, Blicke, Aufmerksamkeiten, Dienste, Geschenke, — wir geben es; vor Allem aber: will er uns leidend über sein Leid, so geben wir uns als leidend, haben aber bei alledem den Genuss der thätigen Dankbarkeit: als welche, kurz gesagt, die gute Rache ist. Will und nimmt er gar Nichts von uns an, so gehen wir erkältet und traurig, fast gekränkt fort: es ist, als ob unsere Dankbarkeit zurückgewiesen würde, — und in diesem Ehrenpuncte ist der Gütigste noch kitzlich. — Aus dem Allen folgt, dass, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Überlegenheit-Gebendes liegt; was beide Empfindungen auf ewig von einander trennt.
139.
Angeblich höher! — Ihr sagt, die Moral des Mitleidens sei eine höhere Moral, als die des Stoicismus’? Beweist es! aber bemerkt, dass über „höher“ und „niedriger“ in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen abzumessen ist: denn es giebt keine absolute Moral. Nehmt also die Maassstäbe anders woher und — nun seht euch vor!
140.
Loben und Tadeln. — Läuft ein Krieg unglücklich aus, so frägt man nach Dem, der „Schuld“ am Kriege sei; geht er siegreich zu Ende, so preist man seinen Urheber. Die Schuld wird überall gesucht, wo ein Misserfolg ist; denn dieser bringt eine Verstimmung mit sich, gegen welche das einzige Heilmittel unwillkürlich angewendet wird: eine neue Erregung des Machtgefühls — und diese findet sich in der Verurtheilung des „Schuldigen“. Dieser Schuldige ist nicht etwa der Sündenbock der Schuld Anderer: er ist das Opfer der Schwachen, Gedemüthigten, Herabgestimmten, welche irgend woran sich beweisen wollen, dass sie noch Stärke haben. Auch sich selber verurtheilen kann ein Mittel sein, nach einer Niederlage sich zum Gefühl der Stärke zu verhelfen. — Dagegen ist die Verherrlichung des Urhebers oftmals das ebenso blinde Ergebniss eines anderen Triebes, der sein Opfer haben will, — und diessmal riecht das Opfer dem Opferthiere selber süss und einladend —: wenn nämlich das Gefühl der Macht in einem Volke, in einer Gesellschaft durch einen grossen und bezaubernden Erfolg überfüllt ist und eine Ermüdung am Siege eintritt, so giebt man von seinem Stolze ab; es erhebt sich das Gefühl der Hingebung und sucht sich sein Object. — Ob wir getadelt oder gelobt werden, wir sind gewöhnlich dabei die Gelegenheiten, und allzuoft die willkürlich am Schopf gefassten und herbeigeschleppten Gelegenheiten für unsere Nächsten, den in ihnen angeschwollenen Trieb des Tadelns oder Lobens ausströmen zu lassen: wir erzeigen ihnen in beiden Fällen eine Wohlthat, an der wir kein Verdienst und für die sie keinen Dank haben.
141.
Schöner, aber weniger werth. — Malerische Moralität: das ist die Moralität der steil aufschiessenden Affecte, der schroffen Übergänge, der pathetischen, eindringlichen, furchtbaren, feierlichen Gebärden und Töne. Es ist die halbwilde Stufe der Moralität: man lasse sich durch ihren ästhetischen Reiz nicht verlocken, ihr einen höheren Rang anzuweisen.
142.
Mitempfindung. — Um den Anderen zu verstehen, das heisst, um sein Gefühl in uns nachzubilden, gehen wir zwar häufig auf den Grund seines so und so bestimmten Gefühls zurück und fragen zum Beispiel: warum ist er betrübt? — um dann aus dem selben Grunde selber betrübt zu werden; aber viel gewöhnlicher ist es, diess zu unterlassen und das Gefühl nach den Wirkungen, die es am Anderen übt und zeigt, in uns zu erzeugen, indem wir den Ausdruck seiner Augen, seiner Stimme, seines Ganges, seiner Haltung (oder gar deren Abbild in Wort, Gemälde, Musik) an unserem Leibe nachbilden (mindestens bis zu einer leisen Ähnlichkeit des Muskelspiels und der Innervation). Dann entsteht in uns ein ähnliches Gefühl, in Folge einer alten Association von Bewegung und Empfindung, welche darauf eingedrillt ist, rückwärts und vorwärts zu laufen. In dieser Geschicklichkeit, die Gefühle des Andern zu verstehen, haben wir es sehr weit gebracht, und fast unwillkürlich sind wir in Gegenwart eines Menschen immer in der Übung dieser Geschicklichkeit: man sehe sich namentlich das Linienspiel in den weiblichen Gesichtern an, wie es ganz vom unaufhörlichen Nachbilden und Wiederspiegeln dessen, was um sie herum empfunden wird, erzittert und glänzt. Am deutlichsten aber zeigt uns die Musik, welche Meister wir im schnellen und feinen Errathen von Gefühlen und in der Mitempfindung sind: wenn nämlich Musik ein Nachbild vom Nachbild von Gefühlen ist und doch, trotz dieser Entfernung und Unbestimmtheit, uns noch oft genug derselben theilhaftig macht, sodass wir traurig werden, ohne den geringsten Anlass zur Trauer, wie vollkommene Narren, blos weil wir Töne und Rhythmen hören, welche irgendwie an den Stimmklang und die Bewegung von Trauernden, oder gar von deren Gebräuchen, erinnern. Man erzählt von einem dänischen König, dass er von der Musik eines Sängers so in kriegerische Begeisterung hineingerissen wurde, dass er aufsprang und fünf Personen seines versammelten Hofstaates tödtete: es gab keinen Krieg, keinen Feind, vielmehr von Allem das Gegentheil, aber die vom Gefühle zur Ursache zurückschliessende Kraft war stark genug, um den Augenschein und die Vernunft zu überwältigen. Allein, diess ist eben fast immer die Wirkung der Musik (gesetzt, dass sie eben wirkt —) und man braucht so paradoxer Fälle nicht, um diess einzusehen: der Zustand des Gefühls, in den uns die Musik bringt, ist fast jedesmal im Widerspruch mit dem Augenschein unserer wirklichen Lage und der Vernunft, welche diese wirkliche Lage und ihre Ursachen erkennt. — Fragen wir, wodurch die Nachbildung der Gefühle Anderer uns so geläufig geworden ist, so bleibt kein Zweifel über die Antwort: der Mensch, als das furchtsamste aller Geschöpfe, vermöge seiner feinen und zerbrechlichen Natur, hat in seiner Furchtsamkeit die Lehrmeisterin jener Mitempfindung, jenes schnellen Verständnisses für das Gefühl des Andern (auch des Thieres) gehabt. In langen Jahrtausenden sah er in allem Fremden und Belebten eine Gefahr: er bildete sofort bei einem solchen Anblick den Ausdruck der Züge und der Haltung nach und machte seinen Schluss über die Art der bösen Absicht hinter diesen Zügen und dieser Haltung. Dieses Ausdeuten aller Bewegungen und Linien auf Absichten hat der Mensch sogar auf die Natur der unbeseelten Dinge angewendet — im Wahne, dass es nichts Unbeseeltes gebe: ich glaube, Alles, was wir Naturgefühl nennen, beim Anblick von Himmel, Flur, Fels, Wald, Gewitter, Sternen, Meer, Landschaft, Frühling, hat hier seine Herkunft, — ohne die uralte Übung der Furcht, diess Alles auf einen zweiten dahinterliegenden Sinn hin zu sehen, hätten wir jetzt keine Freude an der Natur, wie wir keine Freude an Mensch und Thier haben würden, ohne jene Lehrmeisterin des Verstehens, die Furcht. Die Freude und das angenehme Erstaunen, endlich das Gefühl des Lächerlichen, sind nämlich die später geborenen Kinder der Mitempfindung und die viel jüngeren Geschwister der Furcht. — Die Fähigkeit des raschen Verstehens — welche somit auf der Fähigkeit beruht, sich rasch zu verstellen — nimmt bei stolzen selbstherrlichen Menschen und Völkern ab, weil sie weniger Furcht haben: dagegen sind alle Arten des Verstehens und Sich-Verstellens unter den ängstlichen Völkern zu Hause; hier ist auch die rechte Heimath der nachahmenden Künste und der höheren Intelligenz. — Wenn ich von einer solchen Theorie der Mitempfindung aus, wie ich sie hier vorschlage, an die jetzt gerade beliebte und heilig gesprochene Theorie eines mystischen Processes denke, vermöge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eines macht und dergestalt dem einen das unmittelbare Verstehen des anderen ermöglicht: wenn ich mich erinnere, dass ein so heller Kopf wie der Schopenhauer’s an solchem schwärmerischen und nichtswürdigen Krimskrams seine Freude hatte und diese Freude wieder auf helle und halbhelle Köpfe übergepflanzt hat: so weiss ich der Verwunderung und des Erbarmens kein Ende. Wie gross muss unsere Lust am unbegreiflichen Unsinn sein! Wie nahe dem Verrückten steht immer noch der ganze Mensch, wenn er auf seine geheimen intellectuellen Wünsche hinhört! — (Wofür eigentlich fühlte sich Schopenhauer gegen Kant so dankbar gestimmt, so tief verpflichtet? Es verräth sich einmal ganz unzweideutig: Jemand hatte davon gesprochen, wie dem kategorischen Imperative Kant’s die qualitas occulta genommen und er begreiflich gemacht werden könne. Darüber bricht Schopenhauer in diese Worte aus: „Begreiflichkeit des kategorischen Imperativs! Grundverkehrter Gedanke! Ägyptische Finsterniss! Das verhüte der Himmel, dass der nicht noch begreiflich werde! Eben dass es ein Unbegreifliches giebt, dass dieser Jammer des Verstandes und seine Begriffe begränzt, bedingt, endlich, trüglich ist; diese Gewissheit ist Kant’s grosses Geschenk.“ — Man erwäge, ob Jemand einen guten Willen zur Erkenntniss der moralischen Dinge hat, der von vornherein durch den Glauben an die Unbegreiflichkeit dieser Dinge sich beseligt fühlt! Einer, der noch ehrlich an Erleuchtungen von Oben, an Magie und Geistererscheinungen und die metaphysische Hässlichkeit der Kröte glaubt!)
143.
Wehe, wenn dieser Trieb erst wüthet! — Gesetzt, der Trieb der Anhänglichkeit und Fürsorge für Andere (die „sympathische Affection“) wäre doppelt so stark, als er ist, so wäre es gar nicht auf der Erde auszuhalten. Man bedenke doch nur, was Jeder aus Anhänglichkeit und Fürsorge für sich selber an Thorheiten begeht, täglich und stündlich, und wie unausstehlich er dabei anzusehen ist: wie wäre es, wenn wir für Andere das Object dieser Thorheiten und Zudringlichkeiten würden, mit denen sie sich bisher nur selber heimgesucht haben! Würde man dann nicht blindlings flüchten, sobald ein „Nächster“ uns nahe käme? Und die sympathische Affection mit ebenso bösen Worten belegen, mit denen wir jetzt den Egoismus belegen?
144.
Die Ohren vor dem Jammer zuhalten. — Wenn wir uns durch den Jammer und das Leiden der anderen Sterblichen verdüstern lassen und unsern eigenen Himmel mit Wolken bedecken, wer hat dann die Folgen dieser Verdüsterung zu tragen? Eben doch die anderen Sterblichen, und zu allen ihren Lasten noch hinzu! Wir können weder hülfreich noch erquicklich für sie sein, wenn wir das Echo ihres Jammers sein wollen, ja auch wenn wir immer nur nach ihm hin unser Ohr richten, — es sei denn, dass wir die Kunst der Olympier erlernten und uns fürderhin am Unglück der Menschen erbauten, anstatt daran unglücklich zu werden. Das ist aber etwas zu olympierhaft für uns: obwohl wir, mit dem Genuss der Tragödie, schon einen Schritt nach diesem idealischen Götter-Kanibalenthum gethan haben.
145.
„Unegoistisch!“ — Jener ist hohl und will voll werden, Dieser ist überfüllt und will sich ausleeren, — Beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt man beidemal mit Einem Worte: Liebe, — wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?
146.
Auch über den Nächsten hinweg. — Wie? Das Wesen des wahrhaft Moralischen liege darin, dass wir die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen für den Anderen in’s Auge fassen und uns darnach entscheiden? Diess ist nur eine enge und kleinbürgerliche Moral, wenn es auch Moral sein mag: aber höher und freier scheint es mir gedacht, auch über diese nächsten Folgen für den Anderen hinwegzusehen und entferntere Zwecke unter Umständen auch durch das Leid des Anderen zu fördern, — zum Beispiel die Erkenntniss zu fördern, auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und unmittelbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird. Dürfen wir unseren Nächsten nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln? Und wenn wir bei uns nicht so eng und kleinbürgerlich an die unmittelbaren Folgen und Leiden denken: warum müssten wir es bei ihm thun? Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuopfern? — so wie es bisher der Staat und der Fürst thaten, die den einen Bürger den anderen zum Opfer brachten, „der allgemeinen Interessen wegen“, wie man sagte. Aber auch wir haben allgemeine und vielleicht allgemeinere Interessen: warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? sodass ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nöthig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen solle? — Endlich: wir theilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er sich als Opfer fühlen kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch über unser Mitleid hinweg gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist diess nicht eine höhere und freiere Haltung und Stimmung, als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten wohl oder wehe thut? Wir dagegen würden doch durch das Opfer — in welchem wir und die Nächsten einbegriffen sind — das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht stärken und höher heben, gesetzt auch, dass wir nicht Mehr erreichten. Aber schon diess wäre eine positive Vermehrung des Glückes. — Zuletzt, wenn diess sogar — — doch hier kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden.
147.
Ursache des „Altruismus“. — Von der Liebe haben die Menschen im Ganzen desshalb so emphatisch und vergöttlichend gesprochen, weil sie Wenig davon gehabt haben und sich niemals an dieser Kost satt essen durften: so wurde sie ihnen „Götterkost“. Möge ein Dichter einmal im Bilde einer Utopie die allgemeine Menschenliebe als vorhanden zeigen: gewiss, er wird einen qualvollen und lächerlichen Zustand zu beschreiben haben, dessengleichen die Erde noch nicht sah, — Jedermann nicht von Einem Liebenden umschwärmt, belästigt und ersehnt, wie es jetzt vorkommt, sondern von Tausenden, ja von Jedermann, vermöge eines unbezwingbaren Triebes, den man dann ebenso beschimpfen und verfluchen wird, wie es die ältere Menschheit mit der Selbstsucht gethan hat; und die Dichter jenes Zustandes, wenn man ihnen zum Dichten die Ruhe lässt, von Nichts träumend als von der seligen liebelosen Vergangenheit, der göttlichen Selbstsucht, der einstmals auf Erden noch möglichen Einsamkeit, Ungestörtheit, Unbeliebtheit, Gehasstheit, Verachtetheit und wie immer die ganze Niedertracht unserer lieben Thierwelt heisst, in der wir leben.
148.
Ausblick in die Ferne. — Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl definirt hat, welche um des Anderen willen und nur um seinetwillen gethan werden, so giebt es keine moralischen Handlungen! Sind nur die Handlungen moralisch — wie eine andere Definition lautet —, welche in Freiheit des Willens gethan werden, so giebt es ebenfalls keine moralischen Handlungen! — Und was ist also Das, was man so nennt und das doch jedenfalls existirt und erklärt sein will? Es sind die Wirkungen einiger intellectueller Fehlgriffe. — Und gesetzt, man machte sich von diesen Irrthümern frei, was würde aus den „moralischen Handlungen“? — Vermöge dieser Irrthümer theilten wir bisher einigen Handlungen einen höheren Werth zu, als sie haben: wir trennten sie von den „egoistischen“ und den „unfreien“ Handlungen ab. Wenn wir sie jetzt diesen wieder zuordnen, wie wir thun müssen, so verringern wir gewiss ihren Werth (ihr Werthgefühl), und zwar unter das billige Maass hinab, weil die „egoistischen“ und „unfreien“ Handlungen bisher zu niedrig geschätzt wurden, auf Grund jener angeblichen tiefsten und innerlichsten Verschiedenheit. — So werden gerade sie von jetzt ab weniger oft gethan werden, weil sie von nun an weniger geschätzt werden? — Unvermeidlich! Wenigstens für eine gute Zeit, so lange die Wage des Werthgefühls unter der Reaction früherer Fehler steht! Aber unsere Gegenrechnung ist die, dass wir den Menschen den guten Muth zu den als egoistisch verschrieenen Handlungen zurückgeben und den Werth derselben wiederherstellen, — wir rauben diesen das böse Gewissen! Und da diese bisher weit die häufigsten waren und in alle Zukunft es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde der Handlungen und des Lebens seinen bösen Anschein! Diess ist ein sehr hohes Ergebniss! Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf, es zu sein!