Morgenröthe | 06 | Fünftes Buch

Fünftes Buch.

423.

Im grossen Schweigen. — Hier ist das Meer, hier können wir der Stadt vergessen. Zwar lärmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria — es ist jener düstere und thörichte, aber süsse Lärm am Kreuzwege von Tag und Nacht —, aber nur noch einen Augenblick! Jetzt schweigt Alles! Das Meer liegt bleich und glänzend da, es kann nicht reden. Der Himmel spielt sein ewiges stummes Abendspiel mit rothen, gelben, grünen Farben, er kann nicht reden. Die kleinen Klippen und Felsenbänder, welche in’s Meer hineinlaufen, wie um den Ort zu finden, wo es am einsamsten ist, sie können alle nicht reden. Diese ungeheure Stummheit, die uns plötzlich überfällt, ist schön und grausenhaft, das Herz schwillt dabei. — Oh der Gleissnerei dieser stummen Schönheit! Wie gut könnte sie reden, und wie böse auch, wenn sie wollte! Ihre gebundene Zunge und ihr leidendes Glück im Antlitz ist eine Tücke, um über dein Mitgefühl zu spotten! — Sei es drum! Ich schäme mich dessen nicht, der Spott solcher Mächte zu sein. Aber ich bemitleide dich, Natur, weil du schweigen musst, auch wenn es nur deine Bosheit ist, die dir die Zunge bindet: ja, ich bemitleide dich um deiner Bosheit willen! — Ach, es wird noch stiller, und noch einmal schwillt mir das Herz: es erschrickt vor einer neuen Wahrheit, es kann auch nicht reden, es spottet selber mit, wenn der Mund Etwas in diese Schönheit hinausruft, es geniesst selber seine süsse Bosheit des Schweigens. Das Sprechen, ja das Denken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten? — Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend? Über sich selber erhaben?

424.

Für wen die Wahrheit da ist. — Bis jetzt sind die Irrthümer die trostreichen Mächte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten die selbe Wirkung und wartet ein Wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade diess — zu trösten — nicht zu leisten vermöchten? — Wäre diess denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zuständen leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, dass sie gerade ihnen nützlich sein müssten? Es ist doch kein Beweis gegen die Wahrheit einer Pflanze, wenn festgestellt wird, dass sie zur Genesung kranker Menschen Nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, dass man ohne Weiteres annahm, es könne auch durch die Erkenntniss Nichts aufgedeckt werden, was nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es könne, es dürfe gar keine anderen Dinge geben. — Vielleicht folgt aus alledem der Satz, dass die Wahrheit als Ganzes und Zusammenhängendes nur für die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedenvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur im Stande sein werden, sie zu suchen: denn die anderen suchen Heilmittel für sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellect und dessen Freiheit denken, — sie suchen nicht die Wahrheit. Daher kommt es, dass diese Anderen so wenig ächte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist diess das Urtheil der Kranken über die Spiele der Gesunden. — Auch die griechischen Götter verstanden nicht zu trösten; als endlich auch die griechischen Menschen allesammt krank wurden, war diess ein Grund zum Untergang solcher Götter.

425.

Wir Götter in der Verbannung! — Durch Irrthümer über ihre Herkunft, ihre Einzigkeit, ihre Bestimmung, und durch Anforderungen, die auf Grund dieser Irrthümer gestellt wurden, hat sich die Menschheit hoch gehoben und sich immer wieder „selber übertroffen“: aber durch die selben Irrthümer ist unsäglich viel Leiden, gegenseitige Verfolgung, Verdächtigung, Verkennung, und noch mehr Elend des Einzelnen in sich und an sich in die Welt gekommen. Die Menschen sind leidende Geschöpfe geworden, in Folge ihrer Moralen: was sie damit eingekauft haben, das ist, Alles in Allem, ein Gefühl, als ob sie im Grunde zu gut und zu bedeutend für die Erde wären und nur vorübergehend sich auf ihr aufhielten. „Der leidende Hochmüthige“ ist einstweilen immer noch der höchste Typus des Menschen.

426.

Farbenblindheit der Denker. — Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen, wie man sich eingestehen muss, das Auge für Blau und Grün blind war, und sie statt des ersteren ein tieferes Braun, statt des zweiten ein Gelb sahen (wenn sie also mit gleichem Worte zum Beispiel die Farbe des dunkelen Haares, die der Kornblume und die des südländischen Meeres bezeichneten, und wiederum mit gleichem Worte die Farbe der grünsten Gewächse und der menschlichen Haut, des Honigs und der gelben Harze: sodass ihre grössten Maler bezeugtermaassen ihre Welt nur mit Schwarz, Weiss, Roth und Gelb wiedergegeben haben), — wie anders und wie viel näher an den Menschen gerückt musste ihnen die Natur erscheinen, weil in ihrem Auge die Farben des Menschen auch in der Natur überwogen und diese gleichsam in dem Farbenäther der Menschheit schwamm! (Blau und Grün entmenschlichen die Natur mehr, als alles Andere.) Auf diesem Mangel ist die spielende Leichtigkeit, welche die Griechen auszeichnet, Naturvorgänge als Götter und Halbgötter, das heisst als menschartige Gestalten zu sehen, grossgewachsen. — Diess sei aber nur das Gleichniss für eine weitere Vermuthung. Jeder Denker malt seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, als es giebt, und ist gegen einzelne Farben blind. Diess ist nicht nur ein Mangel. Er sieht vermöge dieser Annäherung und Vereinfachung Harmonien der Farben in die Dinge hinein, welche einen grossen Reiz haben und eine Bereicherung der Natur ausmachen können. Vielleicht ist diess sogar der Weg gewesen, auf dem die Menschheit den Genuss im Anblick des Daseins erst gelernt hat: dadurch, dass ihr dieses Dasein zunächst in einem oder zwei Farbentönen und dadurch harmonisirt vorgeführt wurde: sie übte sich gleichsam auf diese wenigen Töne ein, bevor sie zu mehreren übergehen konnte. Und noch jetzt arbeitet sich mancher Einzelne aus einer theilweisen Farbenblindheit in ein reicheres Sehen und Unterscheiden hinaus: wobei er aber nicht nur neue Genüsse findet, sondern immer auch einige der früheren aufgeben und verlieren muss.

427.

Die Verschönerung der Wissenschaft. — Wie die Rococo-Gartenkunst entstand, aus dem Gefühl „die Natur ist hässlich, wild, langweilig, — auf! wir wollen sie verschönern (embellir la nature)!“ — so entsteht aus dem Gefühl „die Wissenschaft ist hässlich, trocken, trostlos, schwierig, langwierig, — auf! lasst uns sie verschönern!“ immer wieder Etwas, das sich die Philosophie nennt. Sie will, was alle Künste und Dichtungen wollen, — vor Allem unterhalten: sie will diess aber, gemäss ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und höheren Art, vor einer Auswahl von Geistern. Für diese eine Gartenkunst zu schaffen, deren Hauptreiz wie bei jener „gemeineren“ die Täuschung der Augen ist (durch Tempel, Fernblicke, Grotten, Irrpfade, Wasserfälle, um im Gleichnisse zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei wunderbaren und plötzlichen Beleuchtungen vorzuführen und so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, dass man in ihr „wie in der wilden Natur“ und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne, — das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, träumt sogar davon, auf diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat. — Diess geht nun seinen Gang und erreicht eines Tages seine hohe Fluth: jetzt schon beginnen die Gegenstimmen gegen die Philosophie laut zu werden, welche rufen „Rückkehr zur Wissenschaft! Zur Natur und Natürlichkeit der Wissenschaft!“ — womit vielleicht ein Zeitalter anhebt, das die mächtigste Schönheit gerade in den „wilden, hässlichen“ Theilen der Wissenschaft entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat.

428.

Zwei Arten Moralisten. — Ein Gesetz der Natur zum ersten Male sehen und ganz sehen, also es nachweisen (zum Beispiel das der Fallkraft, der Licht- und Schallreflexion) ist etwas Anderes und die Sache anderer Geister, als ein solches Gesetz erklären. So unterscheiden sich auch jene Moralisten, welche die menschlichen Gesetze und Gewohnheiten sehen und aufzeigen — die feinohrigen, feinnasigen, feinäugigen Moralisten — durchaus von denen, welche das Beobachtete erklären. Die letzteren müssen vor Allem erfinderisch sein und eine durch Scharfsinn und Wissen entzügelte Phantasie haben.

429.

Die neue Leidenschaft. — Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei? Weil sie die Menschen unglücklicher machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten mehr Glück: täuschen wir uns nicht! — Sondern unser Trieb zur Erkenntniss ist zu stark, als dass wir noch das Glück ohne Erkenntniss oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; — ja, vielleicht sind wir auch unglücklich Liebende! Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, dass die gesammte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müsste als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden hat. Vielleicht selbst, dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht! — auch dieser Gedanke vermag Nichts über uns! Hat sich denn das Christenthum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei, — wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwäche zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? —

430.

Auch heldenhaft. — Dinge vom übelsten Geruche thun, von denen man kaum zu reden wagt, die aber nützlich und nöthig sind, — ist auch heldenhaft. Die Griechen haben sich nicht geschämt, unter die grossen Arbeiten des Herakles auch die Ausmistung eines Stalles zu setzen.

431.

Die Meinungen der Gegner. — Um zu messen, wie fein oder wie schwachsinnig von Natur auch die gescheutesten Köpfe sind, gebe man darauf Acht, wie sie die Meinungen ihrer Gegner auffassen und wiedergeben: dabei verräth sie das natürliche Maass jedes Intellectes. — Der vollkommene Weise erhebt, ohne es zu wollen, seinen Gegner in’s Ideal und macht dessen Widerspruch frei von allen Flecken und Zufälligkeiten: erst wenn dadurch aus seinem Gegner ein Gott mit leuchtenden Waffen geworden ist, kämpft er gegen ihn.

432.

Forscher und Versucher. — Es giebt keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft! Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald böse, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und Kälte nach einander für sie haben. Dieser redet mit den Dingen als Polizist, Jener als Beichtvater, ein Dritter als Wanderer und Neugieriger. Bald mit Sympathie, bald mit Vergewaltigung wird man ihnen Etwas abdringen; Einen führt Ehrfurcht vor ihren Geheimnissen vorwärts und zur Einsicht, Einen wiederum Indiscretion und Schelmerei in der Erklärung von Geheimnissen. Wir Forscher sind wie alle Eroberer, Entdecker, Schifffahrer, Abenteuerer von einer verwegenen Moralität und müssen es uns gefallen lassen, im Ganzen für böse zu gelten.

433

Mit neuen Augen sehen. — Gesetzt, dass unter Schönheit in der Kunst immer die Nachbildung des Glücklichen zu verstehen ist — und so halte ich es für die Wahrheit —, je nachdem eine Zeit, ein Volk, ein grosses in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen vorstellt: was giebt dann der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu geniessen wissen. Folglich muss man wohl glauben, das jetzige uns eigene Glück liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität? So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, dass die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen „Seligkeiten“ an sich geworden sind!

434.

Fürsprache einlegen. — Für die grossen Landschaftsmaler sind die anspruchslosen Gegenden da, die merkwürdigen und seltenen Gegenden aber für die kleinen. Nämlich: die grossen Dinge der Natur und Menschheit müssen für alle die Kleinen, Mittelmässigen und Ehrgeizigen unter ihren Verehrern Fürsprache einlegen, — aber der Grosse legt Fürsprache für die schlichten Dinge ein.

435.

Nicht unvermerkt zu Grunde gehen. — Nicht Einmal, sondern fortwährend bröckelt es an unserer Tüchtigkeit und Grösse; die kleine Vegetation, welche zwischen Allem hineinwächst und sich überall anzuklammern versteht, diese ruinirt Das, was gross an uns ist, — die alltägliche, stündliche übersehene Erbärmlichkeit unserer Umgebung, die tausend Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmüthigen Empfindung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unserer Geselligkeit, unserer Tageseintheilung herauswächst. Lassen wir diess kleine Unkraut unbemerkt, so gehen wir an ihm unbemerkt zu Grunde! — Und wollt ihr durchaus zu Grunde gehen, so thut es lieber auf einmal und plötzlich: dann bleiben vielleicht von euch erhabene Trümmer übrig! Und nicht, wie jetzt zu befürchten steht, Maulwurfshügel! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen, bescheiden wie vordem, und zu erbärmlich selbst zum Triumphiren!

436.

Casuistisch. — Es giebt eine bitterböse Alternative, der nicht Jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist: als Passagier eines Schiffes zu entdecken, dass Capitän und Steuermann gefährliche Fehler machen und dass man ihnen in nautischem Wissen überlegen sei, — und nun sich zu fragen: Wie! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie Beide gefangen nehmen liessest? Verpflichtet dich deine Überlegenheit nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsam untergräbst? — Diess ist ein Gleichniss für höhere und bösere Lagen: wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere Überlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fällen gewährleistet. Der Erfolg? Aber da muss man eben schon das Ding thun, welches alle Gefahren in sich trägt, — und nicht nur Gefahren für uns, sondern für das Schiff.

437.

Vorrechte. — Wer sich selber wirklich besitzt, das heisst wer sich endgültig erobert hat, betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht diess Niemandem zuzugestehen, er kann es aber auch einem Andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde zum Beispiel, — aber er weiss, dass er damit ein Recht verleiht und dass man nur aus dem Besitze der Macht heraus Rechte verleihen kann.

438.

Mensch und Dinge. — Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge.

439.

Merkmale des Glücks. — Das Gemeinsame aller Glücksempfindungen ist zweierlei: Fülle des Gefühls und Übermuth darin, sodass man wie ein Fisch sein Element um sich fühlt und in ihm springt. Gute Christen werden verstehen, was christliche Ausgelassenheit ist.

440.

Nicht entsagen! — Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, gleich einer Nonne, — das giebt eine unfruchtbare, vielleicht schwermüthige Einsamkeit. Diess hat Nichts gemein mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers: wenn er sie wählt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit.

441.

Warum das Nächste uns immer ferner wird. — Je mehr wir an Alles, was war und sein wird, denken, um so bleicher wird uns Das, was gerade jetzt ist. Wenn wir mit Gestorbenen leben und in ihrem Sterben mitsterben, was sind uns dann noch die „Nächsten“? Wir werden einsamer, — und zwar weil die ganze Fluth der Menschheit um uns rauscht. Die Gluth in uns, die allem Menschlichen gilt, nimmt immer zu — und darum blicken wir auf Das, was uns umgiebt, wie als ob es gleichgültiger und schattenhafter geworden wäre. — Aber unser kalter Blick beleidigt!

442.

Die Regel. — „Die Regel ist mir immer interessanter, als die Ausnahme“ — wer so empfindet, der ist in der Erkenntniss weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.

443.

Zur Erziehung. — Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: Niemand lernt, Niemand strebt darnach, Niemand lehrt — die Einsamkeit ertragen.

444.

Verwunderung über Widerstand. — Weil Etwas für uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinen Widerstand leisten — und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch können! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth.

445.

Worin sich die Edelsten verrechnen. — Man giebt Jemandem endlich sein Bestes, sein Kleinod, — nun hat die Liebe Nichts mehr zu geben: aber Der, welcher es annimmt, hat daran gewiss nicht sein Bestes, und folglich fehlt ihm jene volle und letzte Erkenntlichkeit, auf welche der Gebende rechnet.

446.

Rangordnung. — Es giebt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker — solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen —, drittens gründliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen, — was sehr viel mehr werth ist, als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! — endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit sein sollte! Es sind die lieben Untergründlichen.

447.

Meister und Schüler. — Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.

448.

Die Wirklichkeit ehren. — Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Thränen und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres Jubels und würden noch immer so denken, wenn wir ihn nicht erlebt hätten! Wozu können uns also die Erlebnisse fortreissen! Was sind unsere Meinungen! Man muss, um sich nicht zu verlieren, um seine Vernunft nicht zu verlieren, vor den Erlebnissen flüchten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen,; er war voller Empfindung und wusste, wie leicht die Wellen der Empfindung über seiner Vernunft zusammenschlugen. — So hätte sich demnach der Weise zu sagen: „ich will die Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, weil ich sie kenne und fürchte“? — er müsste es machen wie africanische Völkerschaften vor ihrem Fürsten: welche ihm nur rückwärts nahen und ihre Verehrung zugleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen?

449.

Wo sind die Bedürftigen des Geistes? — Ah! Wie es mich anwidert, einem Anderen die eigenen Gedanken aufzudrängen! Wie ich mich jeder Stimmung und heimlichen Umkehr in mir freue, bei der die Gedanken Anderer gegen die eigenen zu Rechte kommen! Ab und zu giebt es aber ein noch höheres Fest, dann, wenn es einmal erlaubt ist, sein geistiges Haus und Habe wegzuschenken, dem Beichtvater gleich, der im Winkel sitzt, begierig, dass ein Bedürftiger komme und von der Noth seiner Gedanken erzähle, damit er ihm wieder einmal Hand und Herz voll und die beunruhigte Seele leicht mache! Nicht nur, dass er keinen Ruhm davon haben will: er möchte auch der Dankbarkeit aus dem Wege laufen, denn sie ist zudringlich und ohne Scheu vor Einsamkeit und Stillschweigen. Aber namenlos oder leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Erfahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein und Dem und Jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne dass er recht merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm Recht haben und einen Sieg feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, dass er das Rechte nach einem kleinen unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die Niemanden zurückstösst, der bedürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigeren Geist, — sondern abgeben, zurückgeben, mittheilen, ärmer werden! Niedrig sein können, um Vielen zugänglich und für Niemanden demüthigend zu sein! Viel Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrthümer gekrochen sein, um zu vielen verborgenen Seelen auf ihren geheimen Wegen gelangen zu können! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art Selbstsucht und Selbstgeniessens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich verborgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Anmuth liegen und doch die Aufstiege zum Erhabenen in der Nähe wissen! — Das wäre ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!

450.

Die Lockung der Erkenntniss. — Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Blick durch das Thor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber; und vermuthlich werden sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern: so heftig ist ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle Sinne, — dieser Ton der süssen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und im hundert-ersten und schönsten: „Lass den Wahn schwinden! Dann ist auch das ‚Wehe mir!‘ verschwunden; und mit dem ‚Wehe mir!‘ ist auch das Wehe dahin.“ (Marc Aurel.)

451.

Wem ein Hofnarr nöthig ist. — Die sehr Schönen, die sehr Guten, die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend Etwas die volle und gemeine Wahrheit, — denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich ein Wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemäss Das, was man an Wahrheit mittheilen könnte, in der Form einer Anpassung vorbringt (also Farben und Grade des Thatsächlichen fälscht, Einzelheiten weglässt oder hinzuthut und Das, was sich gar nicht anpassen lassen will, hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz Alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren halten, — ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen zu können.

452.

Ungeduld. — Es giebt einen Grad von Ungeduld bei Menschen der That und des Gedankens, welcher sie, bei einem Misserfolge, sofort in das entgegengesetzte Reich übertreten, sich dort passioniren und in Unternehmungen einlassen heisst, — bis auch von hier wieder ein Zögern des Erfolges sie vertreibt: so irren sie, abenteuernd und heftig, durch die Praxis vieler Reiche und Naturen und können zuletzt, durch die Allkenntniss von Menschen und Dingen, welche ihre ungeheuere Wanderung und Übung in ihnen zurücklässt, und bei einiger Milderung ihres Triebes, — zu mächtigen Praktikern werden. So wird ein Fehler des Charakters zur Schule des Genie’s.

453.

Moralisches Interregnum. — Wer wäre jetzt schon im Stande, Das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urtheile ablösen wird! — so sicher man auch einzusehen vermag, dass diese in allen Fundamenten irrthümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit muss von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, — zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur möglich, unsere eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!

454.

Zwischenrede. — Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden.

455.

Die erste Natur. — So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige Wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustossen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den Meisten vertrocknet der Keim davon.

456.

Eine werdende Tugend. — Solche Behauptungen und Verheissungen, wie die der antiken Philosophen von der Einheit der Tugend und der Glückseligkeit, oder wie die des Christenthums „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches Alles zufallen!“ — sind nie mit voller Redlichkeit, und doch immer ohne schlechtes Gewissen, gemacht worden: man stellte solche Sätze, deren Wahrheit man sehr wünschte, keck als die Wahrheit gegen den Augenschein auf, und empfand dabei nicht einen religiösen oder moralischen Gewissensbiss — denn man war in honorem majorem der Tugend oder Gottes über die Wirklichkeit hinausgegangen und ohne alle eigennützigen Absichten! Auf dieser Stufe der Wahrhaftigkeit stehen noch viele brave Menschen: wenn sie sich selbstlos fühlen, scheint es ihnen erlaubt, es mit der Wahrheit leichter zu nehmen. Man beachte doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden die Redlichkeit vorkommt: diese ist eine der jüngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, — etwas Werdendes, das wir fördern oder hemmen können, je nachdem unser Sinn steht.

457.

Letzte Schweigsamkeit. — Einzelnen geht es so wie Schatzgräbern: sie entdecken zufällig die verborgen gehaltenen Dinge einer fremden Seele und haben daran ein Wissen, welches oft schwer zu tragen ist! Man kann unter Umständen Lebende und Todte bis zu einem Grade gut kennen und innerlich ausfindig machen, dass es Einem peinlich wird, von ihnen gegen Andere zu reden: man fürchtet mit jedem Worte indiscret zu sein. — Ich könnte mir ein plötzliches Stummwerden des weisesten Historikers denken.

458.

Das grosse Loos. — Das ist etwas sehr Seltenes, aber ein Ding zum Entzücken: der Mensch nämlich mit schön gestaltetem Intellecte, welcher den Charakter, die Neigungen und auch die Erlebnisse hat, die zu einem solchen Intellecte gehören.

459.

Die Grossmüthigkeit des Denkers. — Rousseau und Schopenhauer — Beide waren stolz genug, ihrem Dasein den Wahlspruch aufzuschreiben: vitam impendere vero. Und Beide wiederum — was mögen sie in ihrem Stolze gelitten haben, dass es ihnen nicht gelingen wollte, verum impendere vitae! — verum, wie es jeder von ihnen verstand —, dass ihr Leben neben ihrer Erkenntniss nebenherlief wie ein launischer Bass, der zur Melodie nicht stimmen will! — Aber es stünde schlimm um die Erkenntniss, wenn sie jedem Denker nur in dem Maasse zugemessen würde, als sie ihm gerade auf den Leib passt! Und es stünde schlimm um die Denker, wenn ihre Eitelkeit so gross wäre, dass sie diess allein ertrügen! Gerade darin glänzt die schönste Tugend des grossen Denkers: die Grossmüthigkeit, dass er als Erkennender sich selber und sein Leben unverzagt, oftmals beschämt, oftmals mit erhabenem Spotte und lächelnd — zum Opfer bringt.

460.

Seine gefährlichen Stunden ausnützen. — Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt: wie zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innere des Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewusst haben muss, als dem weisesten Historiker es auch nur möglich wäre. Nun leben wir Alle vergleichungsweise in einer viel zu grossen Sicherheit, als dass wir gute Menschenkenner werden könnten: der Eine erkennt aus Liebhaberei, der Andere aus Langerweile, der Dritte aus Gewohnheit; niemals heisst es: „erkenne, oder geh’ zu Grunde!“ Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern in’s Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie: sie scheinen uns immer noch den „gefiederten Träumen“ zu ähnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben könnten, — als ob Etwas an ihnen in unserem Belieben stünde, als ob wir auch von diesen unseren Wahrheiten erwachen könnten!

461.

Hic Rhodus, hic salta. — Unsere Musik, die sich in Alles verwandeln kann und verwandeln muss, weil sie, wie der Dämon des Meeres, an sich keinen Charakter hat: diese Musik ist ehemals dem christlichen Gelehrten nachgegangen und hat dessen Ideal in Klänge zu übersetzen vermocht: warum sollte sie nicht endlich auch jenen helleren, freudigeren und allgemeinen Klang finden, der dem idealen Denker entspricht? — eine Musik, die erst in den weiten schwebenden Wölbungen seiner Seele sich heimisch auf und nieder zu wiegen vermöchte? — Unsere Musik war bisher so gross, so gut: bei ihr war kein Ding unmöglich! So zeige sie denn, dass es möglich ist, diese Drei: Erhabenheit, tiefes und warmes Licht und die Wonne der höchsten Folgerichtigkeit auf Einmal zu empfinden!

462.

Langsame Curen. — Die chronischen Krankheiten der Seele entstehen wie die des Leibes, sehr selten nur durch einmalige grobe Vergehungen gegen die Vernunft von Leib und Seele, sondern gewöhnlich durch zahllose unbemerkte kleine Nachlässigkeiten. — Wer zum Beispiel Tag für Tag um einen noch so unbedeutenden Grad zu schwach athmet und zu wenig Luft in die Lunge nimmt, sodass sie als Ganzes nicht hinreichend angestrengt und geübt wird, trägt endlich ein chronisches Lungenleiden davon: in einem solchen Falle kann die Heilung auf keinem anderen Wege erfolgen, als dass wiederum zahllose kleine Übungen des Gegentheils vorgenommen und unvermerkt andere Gewohnheiten gepflegt werden, zum Beispiel, wenn man sich zur Regel macht, alle Viertelstunden des Tages Einmal stark und tief aufzuathmen (womöglich platt am Boden liegend; eine Uhr, welche die Viertelstunden schlägt, muss dabei zur Lebensgefährtin gewählt werden). Langsam und kleinlich sind alle diese Curen; auch wer seine Seele heilen will, soll über die Veränderung der kleinsten Gewohnheiten nachdenken. Mancher sagt zehnmal des Tages ein böses kaltes Wort an seine Umgebung und denkt sich Wenig dabei, namentlich nicht, dass nach einigen Jahren er ein Gesetz der Gewohnheit über sich geschaffen hat, welches ihn nunmehr nöthigt, zehnmal jedes Tages seine Umgebung zu verstimmen. Aber er kann sich auch daran gewöhnen, ihr zehnmal wohlzuthun! —

463.

Am siebenten Tage. — „Ihr preist Jenes als mein Schaffen? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lästig war! Meine Seele ist über der Eitelkeit der Schaffenden erhaben. — Ihr preist Diess als meine Resignation? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lästig war! Meine Seele ist über der Eitelkeit der Resignirten erhaben.“

464.

Scham des Schenkenden. — Es ist so ungrossmüthig, immer den Gebenden und Schenkenden zu machen und dabei sein Gesicht zu zeigen! Aber geben und schenken und seinen Namen und seine Gunst verhehlen! Oder keinen Namen haben, wie die Natur, in der uns eben Diess mehr als Alles erquickt, hier endlich einmal nicht mehr einem Schenkenden und Gebenden, nicht mehr einem „gnädigen Gesichte“ zu begegnen! — Freilich, ihr verscherzt euch auch diese Erquickung, denn ihr habt einen Gott in diese Natur gesteckt — und nun ist wieder Alles unfrei und beklommen! Wie? Niemals mit sich allein sein dürfen? Nie mehr unbewacht, unbehütet, ungegängelt, unbeschenkt? Wenn immer ein Anderer um uns ist, so ist das Beste von Muth und Güte in der Welt unmöglich gemacht. Möchte man nicht gegen diese Zudringlichkeit des Himmels, gegen diesen unvermeidlichen übernatürlichen Nachbar ganz des Teufels werden! — Aber es ist nicht nöthig, es war ja nur ein Traum! Wachen wir auf!

465.

Bei einer Begegnung. — A: Wohin blickst du? Du stehst so lange schon still hier. — B: Immer das Alte und das Neue! Die Hülfsbedürftigkeit einer Sache reisst mich so weit und so tief in sie hinein, dass ich endlich ihr dabei auf den Grund komme und einsehe, dass sie nicht gar so viel werth ist. Am Ende aller solcher Erfahrungen steht eine Art Trauer und Starrheit. Diess erlebe ich alle Tage im Kleinen zu dreien Malen.

466.

Verlust im Ruhme. — Welcher Vorzug, als ein Unbekannter zu den Menschen reden zu dürfen! „Die Hälfte unserer Tugend“ nehmen uns die Götter, wenn sie uns das Incognito nehmen und uns berühmt machen.

467.

Zweimal Geduld! — „Damit machst du vielen Menschen Schmerz.“ — Ich weiss es; und weiss auch diess, dass ich doppelt dafür leiden muss, einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache, die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem ist es nicht weniger nöthig, so zu thun, wie ich thue.

468.

Das Reich der Schönheit ist grösser. — Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die Allem eigene Schönheit zu entdecken und gleichsam auf der That zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch machen, jenes Stück Küste mit Felsen, Meerbuchten, Ölbäumen und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt: so sollten wir auch unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher, Gutes und Böses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sich offenbare, welche bei Diesem sonnenhaft, bei Jenem gewitterhaft und bei einem Dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den bösen Menschen als eine wilde Landschaft zu geniessen, die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn der selbe Mensch, solange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Carricatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? — Ja, es ist verboten: bisher war es nur erlaubt, im Moralisch-Guten nach Schönheit zu suchen, — Grund genug, dass man so Wenig gefunden und sich so viel nach imaginären Schönheiten ohne Knochen hat umthun müssen! — So gewiss es hundert Arten von Glück bei den Bösen giebt, von denen die Tugendhaften Nichts ahnen, so giebt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit: und viele sind noch nicht entdeckt.

469.

Die Unmenschlichkeit des Weisen. — Bei dem schweren, Alles zermalmenden Gange des Weisen, welcher, nach dem buddhistischen Liede, „einsam wandelt wie das Rhinozeros“, — bedarf es von Zeit zu Zeit der Zeichen einer versöhnlichen und gemilderten Menschlichkeit: und zwar nicht nur jener schnelleren Schritte, jener artigen und geselligen Wendungen des Geistes, nicht nur des Witzes und einer gewissen Selbstverspottung, sondern selbst der Widersprüche, der gelegentlichen Rückfälle in die herrschende Ungereimtheit. Damit er nicht der Walze gleiche, welche wie das Verhängniss daherrollt, muss der Weise, der lehren will, seine Fehler zu seiner Beschönigung gebrauchen, und indem er sagt „verachtet mich!“, bittet er um die Gunst, der Fürsprecher einer anmaasslichen Wahrheit zu sein. Er will euch in’s Gebirge führen, er wird euer Leben vielleicht in Gefahr bringen: dafür überlässt er es euch willig, vorher und nachher, an einem solchen Führer Rache zu nehmen, — es ist der Preis, um den er sich selber den Genuss macht, voranzugehen. — Gedenkt ihr dessen, was euch durch den Sinn gieng, als er euch einmal durch eine finstere Höhle auf schlüpfrigen Wegen geleitete? Wie euer Herz, klopfend und missmuthig, sich sagte: „dieser Führer da könnte Besseres thun, als hier herumzukriechen! Er gehört zu einer neugierigen Art von Müssiggängern: — ist es nicht schon zu viel Ehre für ihn, dass wir ihm überhaupt einen Werth zuzuerkennen scheinen, indem wir ihm folgen?“

470.

Am Gastmahle Vieler. — Wie glücklich ist man, wenn man so genährt wird, wie die Vögel, aus der Hand Eines, der den Vögeln ausstreut, ohne sie genauer anzusehen und auf ihre Würdigkeit zu prüfen! Zu leben als ein Vogel, der kommt und fortfliegt und keinen Namen im Schnabel trägt! So am Gastmahle Vieler mich zu sättigen, ist meine Freude.

471.

Eine andere Nächstenliebe. — Das aufgeregte, lärmende, ungleiche, nervöse Wesen macht den Gegensatz zur grossen Leidenschaft: diese, wie eine stille düstere Gluth im Innern wohnend und dort alles Heisse und Hitzige sammelnd, lässt den Menschen nach Aussen hin kalt und gleichgültig blicken und drückt den Zügen eine gewisse Impassibilität auf. Solche Menschen sind gelegentlich wohl der Nächstenliebe fähig, — aber sie ist anderer Art, als die der Geselligen und Gefallsüchtigen: es ist eine milde, betrachtsame, gelassene Freundlichkeit; sie blicken gleichsam aus den Fenstern ihrer Burg hinaus, die ihre Festung und eben dadurch ihr Gefängniss ist: — der Blick in’s Fremde, Freie, in das Andere thut ihnen so wohl!

472.

Sich nicht rechtfertigen. — A: Aber warum willst du dich nicht rechtfertigen? — B: Ich könnte es, hierin und in hundert Dingen, aber ich verachte das Vergnügen, das in der Rechtfertigung liegt: denn diese Dinge sind für mich nicht gross genug, und lieber will ich Flecken an mir tragen, als jenen Kleinlichen zu ihrer hämischen Freude verhelfen, dass sie sagen könnten: „er nimmt diese Dinge doch sehr wichtig!“ Diess ist eben nicht wahr! Vielleicht müsste mir noch mehr an mir selber gelegen sein, um eine Pflicht zu haben, fehlerhafte Vorstellungen über mich zu berichtigen; — ich bin zu gleichgültig und träge gegen mich und so auch gegen Das, was durch mich gewirkt wird.

473.

Wo man sein Haus bauen soll. — Wenn du in der Einsamkeit dich gross und fruchtbar fühlst, so wird dich die Geselligkeit verkleinern und veröden: und umgekehrt. Machtvolle Milde, wie die eines Vaters: — wo diese Stimmung dich ergreift, da gründe dein Haus, sei es nun im Gewühl oder in der Stille. Ubi pater sum, ibi patria.

474.

Die einzigen Wege. — „Dialektik ist der einzige Weg, um zu den göttlichen Wesen und hinter den Schleier der Erscheinung zu gelangen“ — diess behauptet Plato ebenso feierlich und leidenschaftlich, als es Schopenhauer von dem Gegensatze der Dialektik behauptet, — und Beide haben Unrecht. Denn es giebt Das gar nicht, zu dem hin sie einen Weg uns zeigen wollen. — Und waren nicht alle grossen Leidenschaften der Menschheit bisher solche Leidenschaften für ein Nichts? Und alle ihre Feierlichkeiten — Feierlichkeiten um ein Nichts?

475.

Schwer werden. — Ihr kennt ihn nicht: er kann viel Gewichte an sich hängen, er nimmt sie doch alle mit in die Höhe. Und ihr schliesst, nach eurem kleinen Flügelschlage, er wolle unten bleiben, weil er diese Gewichte an sich hänge!

476.

Am Erntefeste des Geistes. — Das häuft sich von Tag zu Tage und quillt auf, Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken über sie und Träume über diese Gedanken, — ein unermesslicher, entzückender Reichthum! Sein Anblick macht Schwindeln; ich begreife nicht mehr, wie man die Geistig-Armen selig preisen kann! — Aber ich beneide sie mitunter, dann, wenn ich müde bin: denn die Verwaltung eines solchen Reichthumes ist eine schwere Sache, und ihre Schwere erdrückt nicht selten alles Glück. — Ja, wenn es genügte, ihn nur anzublicken! Wenn man nur der Geizhals seiner Erkenntnisse wäre!

477.

Von der Skepsis erlöst. — A: „Andre kommen misslaunig und schwach, zernagt, wurmstichig, ja halb zerfressen aus einer allgemeinen moralischen Skepsis heraus, — ich aber muthiger und gesünder als je, mit wiedererworbenen Instincten. Wo scharfer Wind weht, die See hoch geht und keine kleine Gefahr zu bestehen ist, da wird mir wohl. Zum Wurm bin ich nicht geworden, ob ich gleich oftmals wie ein Wurm habe arbeiten und graben müssen.“ — B: Du hast eben aufgehört, Skeptiker zu sein! Denn du verneinst! — A: „Und damit habe ich wieder Ja-sagen gelernt.“

478.

Gehen wir vorüber! — Schont ihn! Lasst ihn in seiner Einsamkeit! Wollt ihr ihn ganz zerbrechen? Er hat einen Sprung bekommen, wie ein Glas, in das sich plötzlich etwas zu Heisses ergoss, — und er war ein so kostbares Glas!

479.

Liebe und Wahrhaftigkeit. — Wir sind aus Liebe arge Verbrecher an der Wahrheit und gewohnte Hehler und Stehler, welche mehr wahr sein lassen, als uns wahr scheint, — desshalb muss der Denker immer wieder von Zeit zu Zeit die Personen, welche er liebt (es werden nicht gerade die sein, welche ihn lieben), in die Flucht jagen, damit sie ihren Stachel und ihre Bosheit zeigen und aufhören, ihn zu verführen. Demnach wird die Güte des Denkers ihren ab- und zunehmenden Mond haben.

480.

Unvermeidlich. — Erlebt, was ihr wollt: wer euch nicht wohl will, sieht in eurem Erlebniss einen Anlass, euch zu verkleinern! Erfahrt die tiefsten Umwälzungen des Gemüths und der Erkenntniss und gelangt endlich wie ein Genesender mit schmerzlichem Lächeln hinaus in Freiheit und lichte Stille: — es wird doch Einer sagen „Der da hält seine Krankheit für ein Argument, seine Ohnmacht für den Beweis der Ohnmacht Aller; er ist eitel genug, um krank zu werden, damit er das Übergewicht des Leidenden fühle.“ — Und gesetzt, dass Jemand seine eignen Fesseln sprengt und sich dabei tief verwundet: so wird ein Andrer mit Spott darauf hinzeigen. „Wie gross ist doch seine Ungeschicklichkeit!“ wird er sagen; „So muss es einem Menschen ergehen, der an seine Fesseln gewöhnt ist und Narr genug ist, sie zu zerreissen!“

481.

Zwei Deutsche. — Vergleicht man Kant und Schopenhauer mit Plato, Spinoza, Pascal, Rousseau, Goethe in Absehung auf ihre Seele und nicht auf ihren Geist: so sind die erstgenannten Denker im Nachtheil: ihre Gedanken machen nicht eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte aus, es giebt da keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele, sondern, im Falle Kant’s, eines Kopfes, im Falle Schopenhauer’s, die Beschreibung und Spiegelung eines Charakters („des unveränderlichen“) und die Freude am „Spiegel“ selber, das heisst an einem vorzüglichen Intellecte. Kant erscheint, wenn er durch seine Gedanken hindurchschimmert, als wacker und ehrenwerth im besten Sinne, aber als unbedeutend: es fehlt ihm an Breite und Macht; er hat nicht zu viel erlebt, und seine Art, zu arbeiten, nimmt ihm die Zeit, Etwas zu erleben, — ich denke, wie billig, nicht an grobe „Ereignisse“ von Aussen, sondern an die Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfällt, welches Musse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt. Schopenhauer hat einen Vorsprung vor ihm: er besitzt wenigstens eine gewisse heftige Hässlichkeit der Natur, in Hass, Begierde, Eitelkeit, Misstrauen, er ist etwas wilder angelegt und hatte Zeit und Musse für diese Wildheit. Aber ihm fehlte die „Entwickelung“: wie sie in seinem Gedankenumkreise fehlte; er hatte keine „Geschichte“.

482.

Seinen Umgang suchen. — Suchen wir denn zu viel, wenn wir den Umgang von Männern suchen, welche mild, wohlschmeckend und nahrhaft geworden sind wie Kastanien, die man zur rechten Zeit in’s Feuer gelegt und aus dem Feuer genommen hat? Welche Weniges vom Leben erwarten, und dieses lieber als geschenkt, und nicht als verdient, annehmen, wie als ob die Vögel und die Bienen es ihnen gebracht hätten? Welche zu stolz sind, um sich je belohnt fühlen zu können? Und zu ernst in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss und der Redlichkeit, als dass sie noch Zeit und Gefälligkeit für den Ruhm hätten? — Solche Männer würden wir Philosophen nennen; und sie selber werden immer noch einen bescheideneren Namen finden.

483.

Überdruss am Menschen. — A: Erkenne! Ja! Aber immer als Mensch! Wie? Immer vor der gleichen Komödie sitzen, in der gleichen Komödie spielen? Niemals aus anderen, als aus diesen Augen in die Dinge sehen können? Und welche unzählbaren Arten von Wesen mag es geben, deren Organe besser zur Erkenntniss taugen! Was wird am Ende aller ihrer Erkenntniss die Menschheit erkannt haben? — ihre Organe! Und das heisst vielleicht: die Unmöglichkeit der Erkenntniss! Jammer und Ekel! — B: Das ist ein böser Anfall, — die Vernunft fällt dich an! Aber morgen wirst du wieder mitten im Erkennen sein und damit auch mitten in der Unvernunft, will sagen: in der Lust am Menschlichen. Gehen wir an’s Meer! —

484.

Der eigene Weg. — Wenn wir den entscheidenden Schritt thun und den Weg antreten, welchen man den „eigenen Weg“ nennt: so enthüllt sich uns plötzlich ein Geheimniss: wer auch alles mit uns freund und vertraut war, — Alle haben sich bisher eine Überlegenheit über uns eingebildet und sind beleidigt. Die Besten von ihnen sind nachsichtig und warten geduldig, dass wir den „rechten Weg“ — sie wissen ihn ja! — schon wieder finden werden. Die Anderen spotten und thun, als sei man vorübergehend närrisch geworden oder bezeichnen hämisch einen Verführer. Die Böseren erklären uns für eitle Narren und suchen unsere Motive zu schwärzen, und der Schlimmste sieht in uns seinen schlimmsten Feind, einen, den nach Rache für eine lange Abhängigkeit dürstet, — und fürchtet sich vor uns. — Was also thun? Ich rathe: seine Souveränität damit anfangen, dass man für ein Jahr voraus allen uns Bekannten für Sünden jeder Art Amnestie zusichert.

485.

Ferne Perspectiven. — A: Aber warum diese Einsamkeit? — B: Ich zürne Niemandem. Aber allein scheine ich meine Freunde deutlicher und schöner zu sehen, als zusammen mit ihnen; und als ich die Musik am meisten liebte und empfand, lebte ich ferne von ihr. Es scheint, ich brauche die fernen Perspectiven, um gut von den Dingen zu denken.

486.

Gold und Hunger. — Hier und da giebt es einen Menschen, der Alles, was er berührt, in Gold verwandelt. Eines guten bösen Tages wird er entdecken, dass er selber dabei verhungern muss. Er hat Alles glänzend, herrlich, idealisch-unnahbar um sich, und nun sehnt er sich nach Dingen, welche in Gold zu verwandeln ihm durchaus unmöglich ist — und wie sehnt er sich! Wie ein Verhungernder nach Speise! — Wonach wird er greifen?

487.

Scham. — Da steht das schöne Ross und scharrt den Boden, es schnaubt, es verlangt nach einem Ritte und liebt Den, der es sonst reitet, — aber oh Scham! dieser kann sich heute nicht hinaufschwingen, er ist müde. — Diess ist die Scham des ermüdeten Denkers vor seiner eigenen Philosophie.

488.

Gegen die Verschwendung der Liebe. — Erröthen wir nicht, wenn wir uns auf einer heftigen Abneigung ertappen? Aber wir sollten es auch bei heftigen Zuneigungen thun, der Ungerechtigkeit wegen, die auch in ihnen liegt! Ja, noch mehr: es giebt Menschen, die sich wie eingeengt und geschnürten Herzens fühlen, wenn Jemand ihnen seine Zuneigung nur so zu Gute kommen lässt, dass er damit Anderen Etwas von Zuneigung entzieht. Wenn wir es der Stimme anhören, dass wir ausgewählt, vorgezogen werden! Ach, ich bin nicht dankbar für dieses Auswählen, ich merke, dass ich es Dem nachtrage, der mich so auszeichnen will: er soll mich nicht auf Unkosten der Anderen lieben! Will ich doch schon zusehen, mit mir mich selber zu ertragen! Und oft habe ich noch das Herz voll und Grund zu Übermuth, — einem Solchen, der Solches hat, soll man Nichts bringen, was Andere nöthig, bitter nöthig haben!

489.

Freunde in der Noth. — Mitunter merken wir, dass einer unserer Freunde mehr zu einem Andern, als zu uns gehört, dass sein Zartsinn sich bei dieser Entscheidung quält und seine Selbstsucht dieser Entscheidung nicht gewachsen ist: da müssen wir es ihm erleichtern und ihn von uns fortbeleidigen. — Diess ist ebenfalls da nöthig, wo wir in eine Art zu denken übergehen, welche ihm verderblich sein würde: unsere Liebe zu ihm muss uns treiben, durch ein Unrecht, das wir auf uns nehmen, ihm ein gutes Gewissen zu seiner Lossagung von uns zu schaffen.

490.

Diese kleinen Wahrheiten! — „Ihr kennt diess Alles, aber ihr habt es nie erlebt, — ich nehme euer Zeugniss nicht an. Diese ‚kleinen Wahrheiten‘! — sie dünken euch klein, weil ihr sie nicht mit eurem Blute bezahlt habt!“ — Aber sind sie denn gross, desshalb, weil man Zuviel dafür bezahlt hat? Und Blut ist immer ein Zuviel! — „Glaubt ihr? Was ihr geizig mit Blute seid!“

491.

Auch desshalb Einsamkeit! — A: So willst du wieder in deine Wüste zurück?. — B: Ich bin nicht schnell, ich muss auf mich warten, — es wird spät, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst an’s Licht kommt, und oft muss ich länger Durst leiden, als ich Geduld habe. Desshalb gehe ich in die Einsamkeit, — um nicht aus den Cisternen für Jedermann zu trinken. Unter Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben — und ich werde böse auf Jedermann und fürchte Jedermann. Die Wüste thut mir dann noth, um wieder gut zu werden.

492.

Unter den Südwinden. — A: Ich verstehe mich nicht mehr! Gestern noch war es in mir so stürmisch und dabei so warm, so sonnig — und hell bis zum Äussersten. Und heute! Alles ist nun ruhig, weit, schwermüthig, dunkel, wie die Lagune von Venedig: — ich will Nichts und athme tief auf dabei und doch bin ich bei mir insgeheim unwillig über diess Nichts-Wollen: — so plätschern die Wellen hin und her, im See meiner Melancholie. — B: Du beschreibst da eine kleine angenehme Krankheit. Der nächste Nordostwind wird sie von dir nehmen! — A: Warum doch!

493.

Auf dem eigenen Baume. — A: „Ich habe bei den Gedanken keines Denkers so viel Vergnügen, wie bei den eigenen: das sagt freilich Nichts über ihren Werth, aber ich müsste ein Narr sein, um die für mich schmackhaftesten Früchte zurückzusetzen, weil sie zufällig auf meinem Baume wachsen! — Und ich war einmal dieser Narr.“ — B: „Andern geht es umgekehrt: und auch diess sagt Nichts über den Werth ihrer Gedanken, namentlich noch Nichts gegen ihren Werth.“

494.

Letztes Argument des Tapferen. — „In diesem Gebüsche sind Schlangen.“ — Gut, ich werde in das Gebüsch gehen und sie tödten. — „Aber vielleicht wirst du dabei das Opfer, und sie werden nicht einmal das deine!“ — Was liegt an mir!

495.

Unsere Lehrer. — In der Jugend nimmt man seine Lehrer und Wegweiser aus der Gegenwart und aus den Kreisen, auf welche wir gerade stossen: wir haben die gedankenlose Zuversicht, dass die Gegenwart Lehrer haben müsse, die für uns mehr, als für jeden Anderen taugen und dass wir sie finden müssen, ohne viel zu suchen. Für diese Kinderei muss man später hartes Lösegeld zahlen: man muss seine Lehrer an sich abbüssen. Dann geht man wohl nach den rechten Wegweisern suchen in der ganzen Welt herum, die Vorwelt eingerechnet, — aber es ist vielleicht zu spät. Und schlimmsten Falles entdecken wir, dass sie lebten, als wir jung waren — und dass wir uns damals vergriffen haben.

496.

Das böse Princip. — Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muss: denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als „das böse Princip“. Wir dürfen hieraus errathen, wie die ziemlich freisinnige und neuerungssüchtige Stadt Athen dem Rufe Plato’s bei seinen Lebzeiten mitgespielt hat: was Wunders, dass er — der, wie er selber sagt, den „politischen Trieb“ im Leibe hatte, — dreimal einen Versuch in Sicilien gemacht hat, wo sich damals gerade ein gesammtgriechischer Mittelmeer-Staat vorzubereiten schien? In ihm und mit seiner Hülfe gedachte Plato für alle Griechen Das zu thun, was Muhammed später für seine Araber that: die grossen und kleinen Bräuche und namentlich die tägliche Lebensweise von Jedermann festzusetzen. Möglich waren seine Gedanken, so gewiss die des Muhammed möglich waren: sind doch viel unglaublichere, die des Christenthums, als möglich bewiesen worden! Ein paar Zufälle weniger und ein paar andere Zufälle mehr — und die Welt hätte die Platonisirung des europäischen Südens erlebt; und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so würde muthmaasslich in Plato das „gute Princip“ von uns verehrt werden. Aber der Erfolg fehlte ihm: und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten, — die härteren Namen sind mit dem alten Athen zu Grunde gegangen.

497.

Das reinmachende Auge. — Von „Genius“ wäre am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe, an den Charakter und das Temperament nur lose angeknüpft erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit über sie erheben kann. Dagegen haben gerade Solche am lebhaftesten von ihrem „Genius“ gesprochen, welche von ihrem Temperamente nie loskamen und ihm den geistigsten, grössten, allgemeinsten, ja unter Umständen kosmischen Ausdruck zu geben wussten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese Genie’s konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich vorzufinden, wiederzufinden, wohin sie auch nur flogen, — das ist ihre „Grösse“, und kann Grösse sein! — Die Anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das reine, reinmachende Auge, das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit Einem Male geschenkt: es giebt eine Übung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens.

498.

Nicht fordern! — Ihr kennt ihn nicht! Ja, er unterwirft sich leicht und frei den Menschen und den Dingen, und ist gütig gegen Beide; seine einzige Bitte ist, in Ruhe gelassen zu werden, — aber nur solange Menschen und Dinge nicht Unterwerfung fordern. Alles Fordern macht ihn stolz, scheu und kriegerisch.

499.

Der Böse. — „Nur der Einsame ist böse,“ rief Diderot: und sogleich fühlte sich Rousseau tödtlich verletzt. Folglich gestand er sich zu, dass Diderot Recht habe. In der That hat jeder böse Hang inmitten der Gesellschaft und Geselligkeit so viel Zwang sich anzuthun, so viel Larven vorzunehmen, so oft sich selbst in das Prokrustes-Bett der Tugend zu legen, dass man recht wohl von einem Märtyrerthum des Bösen reden könnte. In der Einsamkeit fällt diess Alles dahin. Wer böse ist, ist es am meisten in der Einsamkeit: auch am besten — und folglich für das Auge Dessen, der überall nur ein Schauspiel sieht, auch am schönsten.

500.

Wider den Strich. — Ein Denker kann sich Jahre lang zwingen, wider den Strich zu denken: ich meine, nicht den Gedanken zu folgen, die sich ihm von Innen her anbieten, sondern denen, zu welchen ein Amt, eine vorgeschriebene Zeiteintheilung, eine willkürliche Art von Fleiss ihn zu verpflichten scheinen. Endlich aber wird er krank: denn diese anscheinend moralische Überwindung verdirbt seine Nervenkraft ebenso gründlich, wie es nur eine zur Regel gemachte Ausschweifung thun könnte.

501.

Sterbliche Seelen! — In Betreff der Erkenntniss ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft: dass der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nöthig, sich zu überstürzen und halbgeprüfte Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem musste. Denn damals hieng das Heil der armen „ewigen Seele“ von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens ab, sie musste sich von heut zu morgen entscheiden, — die „Erkenntniss“ hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den guten Muth zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert — es ist Alles nicht so wichtig! — und gerade desshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Grossartigkeit in’s Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich! Die grössten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht worden, — ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserem Thun jetzt voranlaufen.

502.

Ein Wort für drei verschiedene Zustände. — In der Leidenschaft bricht bei Diesem das wilde, scheussliche, unausstehliche Thier hervor; Jener erhebt sich durch sie in eine Höhe und Grösse und Pracht der Gebärde, gegen die sein sonstiges Sein dürftig erscheint. Ein Dritter, durch und durch veredelt, hat auch den edelsten Sturm und Drang, er ist in diesem Zustande die wildschöne Natur und nur um einen Grad tiefer, als die grosse ruhig-schöne Natur, welche er für gewöhnlich darstellt: aber von den Menschen wird er in der Leidenschaft mehr begriffen und gerade dieser Momente wegen mehr verehrt, — er ist ihnen da einen Schritt näher und verwandter. Sie empfinden Entzücken und Entsetzen bei einem solchen Anblick und nennen ihn gerade da: göttlich.

503.

Freundschaft. — Jener Einwand gegen das philosophische Leben, dass man mit ihm seinen Freunden unnützlich werde, wäre nie einem Modernen gekommen: er ist antik. Das Alterthum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht und fast mit sich in’s Grab gelegt. Diess ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben wir die idealisirte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle grossen Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, dass Mann neben Mann stand, und dass nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste, Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, — wie die Passion zu empfinden lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Epheu’s und der Weinreben daran.

504.

Versöhnen! — Sollte es denn die Aufgabe der Philosophie sein, zwischen dem, was das Kind gelernt und der Mann erkannt hat, zu versöhnen? Sollte die Philosophie gerade die Aufgabe der Jünglinge sein, weil diese in der Mitte zwischen Kind und Mann stehen und das mittlere Bedürfniss haben? Fast will es so scheinen, wenn man erwägt, in welchen Lebensaltern die Philosophen jetzt ihre Conception zu machen pflegen: dann, wenn es zum Glauben zu spät und zum Wissen noch zu früh ist.

505.

Die Praktischen. — Wir Denker haben den Wohlgeschmack aller Dinge erst festzustellen und nöthigenfalls ihn zu decretiren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich gross und das lächerlichste Schauspiel der Welt, so wenig sie um dieselbe wissen und so stolz sie über uns Unpraktische hinwegzureden lieben: ja sie würden ihr praktisches Leben geringschätzen, wenn wir es geringschätzen wollten: — wozu uns hier und da ein kleines Rachegelüst reizen könnte.

506.

Die nöthige Austrocknung alles Guten. — Wie! Man müsse ein Werk gerade so auffassen, wie die Zeit, die es hervorbrachte? Aber man hat mehr Freude, mehr Erstaunen und auch mehr zu lernen daran, wenn man es gerade nicht so auffasst! Habt ihr nicht gemerkt, dass jedes neue gute Werk, so lange es in der feuchten Luft seiner Zeit liegt, seinen mindesten Werth besitzt, — gerade weil es so sehr noch den Geruch des Marktes und der Gegnerschaft und der neuesten Meinungen und alles Vergänglichen zwischen heut und morgen an sich trägt? Später trocknet es aus, seine „Zeitlichkeit“ stirbt ab — und dann erst bekommt es seinen tiefen Glanz und Wohlgeruch, ja, wenn es darnach ist, sein stilles Auge der Ewigkeit.

507.

Gegen die Tyrannei des Wahren. — Selbst wenn wir so toll wären, alle unsere Meinungen für wahr zu halten, so würden wir doch nicht wollen, dass sie allein existirten —: ich wüsste nicht, warum die Alleinherrschaft und Allmacht der Wahrheit zu wünschen wäre; mir genügte schon, dass sie eine grosse Macht habe. Aber sie muss kämpfen können und eine Gegnerschaft haben, und man muss sich von ihr im Unwahren ab und zu erholen können, — sonst wird sie uns langweilig, kraft- und geschmacklos werden und uns eben dazu auch machen.

508.

Nicht pathetisch nehmen. — Das, was wir thun, um uns zu nützen, soll uns keinen moralischen Lobspruch eintragen, weder von Anderen, noch von uns selber; ebenso wenig Das, was wir thun, um uns an uns zu freuen. In solchen Fällen das Pathetisch-nehmen abweisen und sich selber alles Pathetischen enthalten, ist der gute Ton bei allen höheren Menschen: und wer sich an ihn gewöhnt hat, dem ist die Naivität wiedergeschenkt.

509.

Das dritte Auge. — Wie! du bedarfst noch des Theaters! Bist du noch so jung? Werde klug und suche die Tragödie und Komödie dort, wo sie besser gespielt wird! Wo es interessanter und interessirter zugeht! Ja, es ist nicht ganz leicht, dabei eben nur Zuschauer zu bleiben, — aber lerne es! Und fast in allen Lagen, die dir schwer und peinlich fallen, hast du dann ein Pförtchen zur Freude und eine Zuflucht, selbst noch, wenn deine eigenen Leidenschaften über dich herfallen. Mache dein Theater-Auge auf, das grosse dritte Auge, welches durch die zwei anderen in die Welt schaut!

510.

Seinen Tugenden entlaufen. — Was liegt an einem Denker, wenn er nicht gelegentlich seinen eigenen Tugenden zu entlaufen weiss! Er soll ja „nicht nur ein moralisches Wesen“ sein!

511.

Die Versucherin. — Die Ehrlichkeit ist die grosse Versucherin aller Fanatiker. Was sich Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schönen Weibes zu nahen schien und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war wohl die Ehrlichkeit und vielleicht, in seltneren Fällen, sogar die Wahrheit.

512.

Gegen die Sachen muthig. — Wer seiner Natur nach gegen Personen rücksichtsvoll oder ängstlich ist, aber seinen Muth gegen die Sachen hat, scheut sich vor neuen und näheren Bekanntschaften und beschränkt seine alten: damit sein Incognito und seine Rücksichtslosigkeit in der Wahrheit zusammenwachsen.

513.

Schranke und Schönheit. — Suchst du Menschen mit schöner Cultur? Aber dann musst du dir, wie wenn du schöne Gegenden suchst, auch beschränkte Aussichten und Ansichten gefallen lassen. — Gewiss giebt es auch panoramatische Menschen, gewiss sind sie, wie die panoramatischen Gegenden, lehrreich und erstaunlich: aber nicht schön.

514.

An die Stärkeren. — Ihr stärkeren und hochmüthigen Geister, nur um Eins seid gebeten: legt uns Anderen keine neue Last auf, sondern nehmt Etwas von unserer Last auf euch, da ihr ja die Stärkeren seid! Aber ihr macht es so gerne umgekehrt: denn ihr wollt fliegen, und desshalb sollen wir auch noch eure Last zu unserer tragen: das heisst, wir sollen kriechen!

515.

Zunahme der Schönheit. — Warum nimmt die Schönheit mit der Civilisation zu? Weil bei dem civilisirten Menschen die drei Gelegenheiten zur Hässlichkeit selten und immer seltener kommen: erstens die Affecte in ihren wildesten Ausbrüchen, zweitens die leiblichen Anstrengungen des äussersten Grades, drittens die Nöthigung, durch den Anblick Furcht einzuflössen, welche auf niederen und gefährdeten Culturstufen so gross und häufig ist, dass sie selbst Gebärden und Ceremoniell festsetzt und die Hässlichkeit zur Pflicht macht.

516.

Seinen Dämon nicht in die Nächsten fahren lassen! — Bleiben wir immerhin für unsere Zeit dabei, dass Wohlwollen und Wohlthun den guten Menschen ausmache; nur lasst uns hinzufügen: „vorausgesetzt, dass er zuerst gegen sich selber wohlwollend und wohlthuend gesinnt sei!“ Denn ohne Dieses — wenn er vor sich flieht, sich hasst, sich Schaden zufügt — ist er gewiss kein guter Mensch. Dann rettet er sich nur in die Anderen, vor sich selber: mögen diese Anderen zusehen, dass sie nicht schlimm dabei fahren, so wohl er ihnen anscheinend auch will! — Aber gerade Diess: das ego fliehen und hassen und im Anderen, für den Anderen leben — hat man bisher, ebenso gedankenlos als zuversichtlich, „unegoistisch“ und folglich „gut“ geheissen!

517.

Zur Liebe verführen. — Wer sich selber hasst, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verführen!

518.

Resignation. — Was ist Ergebung? Es ist die bequemste Lage eines Kranken, der sich lange unter Martern herumgeworfen hat, um sie zu finden, der dadurch müde ward — und sie nun auch fand!

519.

Betrogen werden. — Sobald ihr handeln wollt, müsst ihr die Thür zum Zweifel verschliessen, — sagte ein Handelnder. — Und du fürchtest dich nicht, auf diese Weise der Betrogene zu werden? — antwortete ein Beschaulicher.

520.

Die ewige Todtenfeier. — Es könnte Jemand über die Geschichte weg eine fortgesetzte Grabrede zu hören glauben: man begrub und begräbt immer sein Liebstes, Gedanken und Hoffnungen, und erhielt und erhält Stolz dafür, gloria mundi, das heisst, den Pomp der Leichenrede. Damit soll Alles gut gemacht werden! Und der Leichenredner ist immer noch der grösste öffentliche Wohlthäter!

521.

Ausnahme-Eitelkeit. — Jener hat Eine hohe Eigenschaft, zu seinem Troste: über den Rest seines Wesens — es ist fast Alles Rest! — gleitet sein Blick verächtlich hin. Aber er erholt sich von sich selber, wenn er wie zu seinem Heiligthume geht; schon der Weg dahin dünkt ihm wie ein Aufsteigen auf breiten sanften Stufen: — und ihr Grausamen nennt ihn desshalb eitel!

522.

Die Weisheit ohne Ohren. — Täglich zu hören, was über uns gesprochen wird, oder gar zu ergrübeln, was über uns gedacht wird, — das vernichtet den stärksten Mann. Darum lassen uns ja die Anderen leben, um täglich über uns Recht zu behalten! Sie würden uns ja nicht aushalten, wenn wir gegen sie Recht hätten oder gar haben wollten! Kurz, bringen wir der allgemeinen Verträglichkeit das Opfer, horchen wir nicht hin, wenn über uns geredet, gelobt, getadelt, gewünscht, gehofft wird, denken wir auch nicht einmal daran!

523.

Hinterfragen. — Bei Allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurtheil soll es erregen? Und dann noch: bis wie weit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?

524.

Eifersucht der Einsamen. — Zwischen geselligen und einsamen Naturen ist dieser Unterschied (vorausgesetzt, dass beide Geist haben!): die ersteren werden zufrieden oder beinahe zufrieden mit einer Sache, welche sie auch sei, von dem Augenblicke an, da sie eine mittheilbare glückliche Wendung über dieselbe in ihrem Geiste gefunden haben, — das versöhnt sie mit dem Teufel selber! Die Einsamen aber haben ihr stilles Entzücken, ihre stille Qual an einer Sache, sie hassen die geistreiche glänzende Ausstellung ihrer innersten Probleme, wie sie die allzugewählte Tracht an ihrer Geliebten hassen: sie sehen dann melancholisch auf sie hin, wie als ob der Verdacht ihnen aufstiege, dass sie Anderen gefallen wolle! Diess ist die Eifersucht aller einsamen Denker und leidenschaftlichen Träumer auf den esprit.

525.

Wirkung des Lobes. — Die Einen werden durch grosses Lob schamhaft, die Anderen frech.

526.

Nicht Symbol sein wollen. — Ich beklage die Fürsten: es ist ihnen nicht erlaubt, sich zeitweilig im Verkehre zu annulliren und so lernen sie die Menschen nur aus einer unbequemen Lage und Verstellung kennen; der fortwährende Zwang, Etwas zu bedeuten, macht sie zuletzt thatsächlich zu feierlichen Nullen. — Und so geht es Allen, welche ihre Pflicht darin sehen, Symbole zu sein.

527.

Die Versteckten. — Habt ihr jene Menschen noch nicht gefunden, welche auch ihr entzücktes Herz festhalten und pressen und welche lieber stumm werden, als dass sie die Scham des Maasses verlören? — Und jene Unbequemen und oft so Gutartigen fandet ihr auch noch nicht, welche nicht erkannt werden wollen, und die ihre Fusstapfen im Sande immer wieder verwischen, ja die Betrüger sind, vor Anderen und vor sich, um verborgen zu bleiben?

528.

Seltnere Enthaltsamkeit. — Es ist oft kein geringes Zeichen von Humanität, einen Andern nicht beurtheilen zu wollen und sich zu weigern, über ihn zu denken.

529.

Wodurch Menschen und Völker Glanz bekommen. — Wie viele ächte individuelle Handlungen werden desshalb unterlassen, weil man, bevor man sie thut, einsieht oder argwöhnt, dass sie missverstanden werden! — also gerade jene Handlungen, welche überhaupt Werth haben, im Guten und Schlimmen. Je höher also eine Zeit, ein Volk die Individuen achtet und je mehr man ihnen das Recht und Übergewicht zugesteht, um so mehr Handlungen jener Art werden sich an’s Licht wagen — und so breitet sich zuletzt ein Schimmer von Ehrlichkeit, von Ächtheit im Guten und Schlimmen über ganzen Zeiten und Völkern aus, dass sie, wie zum Beispiel die Griechen, nach ihrem Untergange noch Jahrtausende lang gleich manchen Sternen fortleuchten.

530.

Umschweife des Denkers. — Bei Manchen ist der Gang ihres gesammten Denkens streng und unerbittlich kühn, ja, mitunter grausam gegen sich, aber im Einzelnen sind sie milde und beugsam; sie drehen sich zehnmal um eine Sache, mit wohlwollendem Zögern, aber endlich gehen sie ihren strengen Weg weiter. Es sind Ströme mit vielen Krümmungen und abgeschiedenen Einsiedeleien; es giebt Stellen in ihrem Laufe, wo der Strom mit sich selber Versteckens spielt und sich eine kurze Idylle macht, mit Inseln, Bäumen, Grotten und Wasserfällen: und dann zieht er wieder weiter, an Felsen vorüber und sich durch das härteste Gestein zwingend.

531.

Die Kunst anders empfinden. — Von der Zeit an, wo man einsiedlerisch-gesellig, verzehrend und verzehrt, mit tiefen fruchtbaren Gedanken, und nur noch mit ihnen, lebt, will man von der Kunst entweder überhaupt Nichts mehr oder man will etwas ganz Anderes, als früher, — das heisst, man ändert seinen Geschmack. Denn früher wollte man durch die Thür der Kunst gerade in das Element auf einen Augenblick hineintauchen, in welchem man nun dauernd lebt; damals träumte man sich damit in das Entzücken eines Besitzes, und nun besitzt man. Ja, vorübergehend wegwerfen, was man jetzt hat, und sich arm, als Kind, Bettler und Narr träumen — kann uns nunmehr gelegentlich entzücken.

532.

„Die Liebe macht gleich.“ — Die Liebe will dem Andern, dem sie sich weiht, jedes Gefühl von Fremdsein ersparen, sie ist folglich voller Verstellung und Anähnlichung, sie betrügt fortwährend und schauspielert eine Gleichheit, die es in Wahrheit nicht giebt. Und diess geschieht so instinctiv, dass liebende Frauen diese Verstellung und beständige zarteste Betrügerei ableugnen und kühn behaupten, die Liebe mache gleich (das heisst sie thue ein Wunder!). — Dieser Vorgang ist einfach, wenn die eine Person sich lieben lässt und es nicht nöthig findet, sich zu verstellen, vielmehr diess der anderen, liebenden überlässt: aber nichts Verwickelteres und Undurchdringbareres von Schauspielerei giebt es, als wenn beide in der vollen Leidenschaft für einander sind und folglich Jeder sich aufgiebt und sich dem Anderen gleichstellen und ihm allein gleichmachen will: und keiner zuletzt mehr weiss, was er nachahmen, wozu er sich verstellen, als was er sich geben soll. Die schöne Tollheit dieses Schauspiels ist zu gut für diese Welt und zu fein für menschliche Augen.

533.

Wir Anfänger! — Was erräth und sieht ein Schauspieler Alles, wenn er einen anderen spielen sieht! Er weiss es, wenn ein Muskel an einer Gebärde den Dienst versagt, er sondert jene kleinen, gemachten Dinge ab, welche einzeln und kaltblütig vor dem Spiegel eingeübt sind und nicht in’s Ganze hineinwachsen wollen, er fühlt es, wenn der Spieler von seiner eigenen Erfindung auf der Scene überrascht wird und wenn er sie in der Überraschung verdirbt. — Wie anders wieder sieht ein Maler auf einen vor ihm sich bewegenden Menschen! Er sieht namentlich sofort Vieles hinzu, um das Gegenwärtige zu vervollständigen und zur ganzen Wirkung zu bringen; er probirt im Geiste mehrere Beleuchtungen des selben Gegenstandes, er dividirt das Ganze der Wirkung durch einen Gegensatz, den er hinzustellt. — Hätten wir doch erst das Auge dieses Schauspielers und dieses Malers für das Reich der menschlichen Seelen!

534.

Die kleinen Dosen. — Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Grosses auf Einmal zu schaffen! So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Werthschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, — nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben — bis wir, sehr spät vermuthlich, inne werden, dass die neue Werthschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben. — Man fängt ja an, auch diess einzusehen, dass der letzte Versuch einer grossen Veränderung der Werthschätzungen, und zwar in Bezug auf die politischen Dinge, — die „grosse Revolution“ — nicht mehr war, als eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoffnung auf plötzliche Genesung beizubringen wusste — und damit alle politischen Kranken bis auf diesen Augenblick ungeduldig und gefährlich gemacht hat. —

535.

Die Wahrheit hat die Macht nöthig. — An sich ist die Wahrheit durchaus keine Macht, — was auch immer des Gegentheils der schönthuerische Aufklärer zu sagen gewohnt sein mag! — Sie muss vielmehr die Macht auf ihre Seite ziehen oder sich auf die Seite der Macht schlagen, sonst wird sie immer wieder zu Grunde gehen! Diess ist nun genug und übergenug bewiesen!

536.

Die Daumenschraube. — Es empört endlich, immer und immer wieder zu sehen, wie grausam Jeder seine paar Privat-Tugenden den Anderen, die sie zufällig nicht haben, aufrechnet, wie er sie damit zwickt und plagt. Und so wollen wir es auch mit dem „Sinn für Redlichkeit“ menschlich treiben, so gewiss man an ihm eine Daumenschraube besitzt, um allen diesen grossartigen Selbstlingen, die auch jetzt noch ihren Glauben der ganzen Welt aufdringen wollen, bis auf’s Blut wehe zu thun: — wir haben sie an uns selber erprobt!

537.

Meisterschaft. — Die Meisterschaft ist dann erreicht, wenn man sich in der Ausführung weder vergreift, noch zögert.

538.

Moralischer Irrsinn des Genie’s. — Bei einer gewissen Gattung grosser Geister giebt es ein peinliches, zum Theil fürchterliches Schauspiel zu beobachten: ihre fruchtbarsten Augenblicke, ihre Flüge aufwärts und in die Ferne scheinen ihrer gesammten Constitution nicht gemäss zu sein und irgendwie über deren Kraft hinauszugehen, sodass jedes Mal ein Fehler und auf die Dauer die Fehlerhaftigkeit der Maschine zurückbleibt, als welche sich aber wiederum, bei so hochgeistigen Naturen wie den hier gemeinten, in allerlei moralischen und intellectuellen Symptomen viel regelmässiger als in körperlichen Nothzuständen zu erkennen giebt. So könnte das unbegreiflich Ängstliche, Eitle, Gehässige, Neidische, Eingeschnürte und Einschnürende, welches plötzlich aus ihnen hervorspringt, jenes ganze Allzupersönliche und Unfreie in Naturen, wie denen Rousseau’s und Schopenhauer’s, recht wohl die Folge eines periodischen Herzleidens sein: diess aber die Folge eines Nervenleidens und dieses endlich die Folge — —. So lange der Genius in uns wohnt, sind wir beherzt, ja wie toll, und achten nicht des Lebens, der Gesundheit und der Ehre; wir durchfliegen den Tag freier, als ein Adler, und sind sicherer im Dunkel, als die Eule. Aber auf einmal verlässt er uns, und ebenso plötzlich fällt tiefe Furchtsamkeit auf uns: wir verstehen uns selber nicht mehr, wir leiden an allem Erlebten, an allem Nichterlebten, wir sind wie unter nackten Felsen, vor einem Sturme, und zugleich wie erbärmliche Kindsseelen, die sich vor einem Geraschel und einem Schatten fürchten. — Drei Viertel alles Bösen, das in der Welt gethan wird, geschieht aus Furchtsamkeit: und diese ist vor Allem ein physiologischer Vorgang! —

539.

Wisst ihr auch, was ihr wollt? — Hat euch nie die Angst geplagt, ihr möchtet gar nicht dazu taugen, Das, was wahr ist, zu erkennen? Die Angst, dass euer Sinn zu stumpf, und selbst euer Feingefühl des Sehens noch viel zu grob sei? Wenn ihr einmal merktet, was für ein Wille hinter eurem Sehen waltete? Zum Beispiel, wie ihr gestern mehr sehen wolltet, als ein Anderer, heute es anders sehen wollt, als der Andere, oder wie ihr von vornherein euch sehnt, eine Übereinstimmung, oder das Gegentheil von dem zu finden, was man bisher zu finden vermeinte! Oh der schämenswerthen Gelüste! Wie ihr oft nach dem Starkwirkenden, oft nach dem Beruhigenden ausspäht, — weil ihr gerade müde seid! Immer voller geheimer Vorherbestimmungen, wie die Wahrheit beschaffen sein müsse, dass ihr, gerade ihr sie annehmen könntet! Oder meint ihr, heute, da ihr gefroren und trocken wie ein heller Morgen im Winter seid und euch Nichts am Herzen liegt, ihr hättet bessere Augen? Gehört nicht Wärme und Schwärmerei dazu, einem Gedankendinge Gerechtigkeit zu schaffen? — und das eben heisst Sehen! Als ob ihr überhaupt mit Gedankendingen anders verkehren könntet, als mit Menschen! Es ist in diesem Verkehre die gleiche Moralität, die gleiche Ehrenhaftigkeit, der gleiche Hintergedanke, die gleiche Schlaffheit, die gleiche Furchtsamkeit, — euer ganzes liebens- und hassenswürdiges Ich! Eure körperlichen Ermattungen werden den Dingen matte Farben geben, eure Fieber werden Ungeheuer aus ihnen machen! Leuchtet euer Morgen nicht anders auf die Dinge, als euer Abend? Fürchtet ihr nicht in der Höhle jeder Erkenntniss euer eigenes Gespenst wieder zu finden, als das Gespinnst, in welches die Wahrheit sich vor euch verkleidet hat? Ist es nicht eine schauerliche Komödie, in welcher ihr so unbedachtsam mitspielen wollt? —

540.

Lernen. — Michelangelo sah in Raffael das Studium, in sich die Natur: dort das Lernen, hier die Begabung. Indessen ist diess eine Pedanterie, mit aller Ehrfurcht vor dem grossen Pedanten gesagt. Was ist denn Begabung Anderes, als ein Name für ein älteres Stück Lernens, Erfahrens, Einübens, Aneignens, Einverleibens, sei es auf der Stufe unserer Väter oder noch früher! Und wiederum: Der, welcher lernt, begabt sich selber, — nur ist es nicht so leicht, zu lernen, und nicht nur die Sache des guten Willens; man muss lernen können. Bei einem Künstler stellt sich dem oft der Neid entgegen, oder jener Stolz, welcher beim Gefühl des Fremdartigen sofort seine Stacheln hervorkehrt und sich unwillkürlich in einen Vertheidigungszustand, statt in den des Lernenden, versetzt. An beidem fehlte es Raffael, gleich Goethe, und desshalb waren sie grosse Lerner und nicht nur die Ausbeuter jener Erzgänge, welche sich aus dem Geschiebe und der Geschichte ihrer Vorfahren ausgelaugt hatten. Raffael verschwindet vor uns als Lernender, mitten in der Aneignung dessen, was sein grosser Nebenbuhler als seine „Natur“ bezeichnete: er trug täglich ein Stück davon hinweg, dieser edelste Dieb; aber ehe er den ganzen Michelangelo in sich hinübergetragen hatte, starb er — und die letzte Reihe seiner Werke, als der Anfang eines neuen Studienplanes, ist weniger vollkommen und schlechthin gut, eben weil der grosser Lerner vom Tode in seinem schwierigsten Pensum gestört worden ist und das rechtfertigende letzte Ziel, nach welchem er ausschaute, mit sich genommen hat.

541.

Wie man versteinern soll. — Langsam, langsam hart werden wie ein Edelstein — und zuletzt still und zur Freude der Ewigkeit liegen bleiben.

542.

Der Philosoph und das Alter. — Man thut nicht klug, den Abend über den Tag urtheilen zu lassen: denn allzu oft wird da die Ermüdung zur Richterin über Kraft, Erfolg und guten Willen. Und ebenso sollte die höchste Vorsicht in Absehung auf das Alter und seine Beurtheilung des Lebens geboten sein, zumal das Alter, wie der Abend, sich in eine neue und reizende Moralität zu verkleiden liebt und durch Abendröthe, Dämmerung, friedliche oder sehnsüchtige Stille den Tag zu beschämen weiss. Die Pietät, welche wir dem alten Manne entgegenbringen, zumal wenn es ein alter Denker und Weiser ist, macht uns leicht blind gegen die Alterung seines Geistes, und es thut immer noth, die Merkmale solcher Alterung und Ermüdung aus ihrem Versteck, das heisst: das physiologische Phänomen hinter dem moralischen Für- und Vorurtheile hervorzuziehen, um nicht die Narren der Pietät und die Schädiger der Erkenntniss zu werden. Nicht selten nämlich tritt der alte Mann in den Wahn einer grossen moralischen Erneuerung und Wiedergeburt und giebt von dieser Empfindung aus Urtheile über das Werk und den Gang seines Lebens ab, wie als ob er jetzt erst hellsichtig geworden sei: und doch steht hinter diesem Wohlgefühle und diesem zuversichtlichen Urtheilen als Einbläserin nicht die Weisheit, sondern die Müdigkeit. Als deren gefährlichstes Kennzeichen mag wohl der Genieglaube bezeichnet werden, welcher erst um diese Lebensgränze grosse und halbgrosse Männer des Geistes zu überfallen pflegt: der Glaube an eine Ausnahmestellung und an Ausnahmerechte. Der von ihm heimgesuchte Denker hält es nunmehr für erlaubt, sich es leichter zu machen und als Genie mehr zu decretiren, als zu beweisen: wahrscheinlich ist aber eben der Trieb, welchen die Müdigkeit des Geistes nach Erleichterung empfindet, die stärkste Quelle jenes Glaubens, er geht ihm der Zeit nach zuvor, wie es auch anders erscheinen möge. Sodann: um diese Zeit will man gemäss der Genusssucht aller Müden und Alten die Resultate seines Denkens geniessen, anstatt sie wieder zu prüfen und auszusäen, und hat dazu nöthig, sie sich mundgerecht und geniessbar zu machen und ihre Trockenheit, Kälte und Würzlosigkeit zu beseitigen; und so geschieht es, dass der alte Denker sich scheinbar über das Werk seines Lebens erhebt, in Wahrheit aber dasselbe durch eingemischte Schwärmereien, Süssigkeiten, Würzen, dichterische Nebel und mystische Lichter verdirbt. So ergieng es zuletzt Plato, so ergieng es zuletzt jenem grossen rechtschaffenen Franzosen, dem die Deutschen und die Engländer dieses Jahrhunderts, als einem Umschlinger und Bändiger der strengen Wissenschaften, Keinen an die Seite zu stellen vermögen, Auguste Comte. Ein drittes Merkmal der Ermüdung: jener Ehrgeiz, welcher in der Brust des grossen Denkers stürmte, als er jung war, und der damals in Nichts sein Genügen fand, ist nun auch alt geworden, er greift, wie Einer, der keine Zeit mehr zu verlieren hat, nach den gröberen und bereiteren Mitteln der Befriedigung, das heisst, nach denen der thätigen, herrschenden, gewaltsamen, erobernden Naturen: von jetzt ab will er Institutionen gründen, die seinen Namen tragen, und nicht mehr Gedanken-Bauten; was sind ihm jetzt noch die ätherhaften Siege und Ehren im Reiche der Beweise und Widerlegungen! was ist ihm eine Verewigung in Büchern, ein zitterndes Frohlocken in der Seele eines Lesers! Die Institution dagegen ist ein Tempel, — das weiss er wohl, und ein Tempel von Stein und Dauer erhält seinen Gott sicherer am Leben, als die Opfergaben zarter und seltener Seelen. Vielleicht findet er um diese Zeit auch zum ersten Mal jene Liebe, welche mehr einem Gotte gilt, als einem Menschen, und sein ganzes Wesen mildert und versüsst sich unter den Strahlen einer solchen Sonne gleich einer Frucht im Herbste. Ja, er wird göttlicher und schöner, der grosse Alte — und trotzdem ist es das Alter und die Müdigkeit, welche ihm erlauben, derartig auszureifen, stille zu werden und in der leuchtenden Abgötterei einer Frau auszuruhen. Nun ist es vorbei mit seinem früheren trotzigen, dem eignen Selbst überlegenen Verlangen nach ächten Schülern, nämlich ächten Fortdenkern, das heisst, ächten Gegnern: jenes Verlangen kam aus der ungeschwächten Kraft, aus dem bewussten Stolze, jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu können, — jetzt will er entschlossene Parteigänger, unbedenkliche Kameraden, Hülfstruppen, Herolde, ein pomphaftes Gefolge. Jetzt hält er überhaupt die furchtbare Isolation nicht mehr aus, in der jeder vorwärts- und vorausfliegende Geist lebt, er umstellt sich nunmehr mit Gegenständen der Verehrung, der Gemeinschaft, der Rührung und Liebe, er will es endlich auch einmal so gut haben, wie alle Religiösen, und in der Gemeinde feiern, was er hochschätzt, ja, er wird dazu eine Religion erfinden, um nur die Gemeinde zu haben. So lebt der weise Alte und geräth dabei unvermerkt in eine solche klägliche Nähe zu priesterhaften, dichterischen Ausschweifungen, dass man sich kaum dabei seiner weisen und strengen Jugend, seiner damaligen straffen Moralität des Kopfes, seiner wahrhaft männlichen Scheu vor Einfällen und Schwärmereien erinnern darf. Wenn er sich früher mit anderen, älteren Denkern verglich, so geschah es, um seine Schwäche ernst mit ihrer Kraft zu messen und gegen sich selber kälter und freier zu werden: jetzt thut er es nur, um sich bei der Vergleichung am eigenen Wahne zu berauschen. Früher dachte er mit Zuversicht an die kommenden Denker, ja, mit Wonne sah er sich einstmals in ihrem volleren Lichte untergehen: jetzt quält es ihn, nicht der Letzte sein zu können, er sinnt über Mittel nach, mit seiner Erbschaft, die er den Menschen schenkt, auch eine Beschränkung des souveränen Denkens ihnen aufzuerlegen, er fürchtet und verunglimpft den Stolz und den Freiheitsdurst der individuellen Geister —: nach ihm soll keiner mehr seinen Intellect völlig frei walten lassen, er selber will als das Bollwerk für immer stehen bleiben, an welches die Brandung des Denkens überhaupt schlagen dürfe, — das sind seine geheimen, vielleicht nicht einmal immer geheimen Wünsche! Die harte Thatsache hinter solchen Wünschen ist aber, dass er selber vor seiner Lehre Halt gemacht hat und in ihr seinen Gränzstein, sein „Bis hierher und nicht weiter“ aufgerichtet hat. Indem er sich selber kanonisirt, hat er auch das Zeugniss des Todes über sich ausgestellt: von jetzt ab darf sein Geist sich nicht weiter entwickeln, die Zeit für ihn ist um, der Zeiger fällt. Wenn ein grosser Denker aus sich eine bindende Institution für die zukünftige Menschheit machen will, darf man sicherlich annehmen, dass er über den Gipfel seiner Kraft gegangen und sehr müde, sehr nahe seinem Sonnenuntergange ist.

543.

Nicht die Leidenschaft zum Argument der Wahrheit machen! — Oh, ihr gutartigen und sogar edlen Schwärmer, ich kenne euch! Ihr wollt Recht behalten, vor uns, aber auch vor euch, und vor Allem vor euch! — und ein reizbares und feines böses Gewissen stachelt und treibt euch so oft gerade gegen euere Schwärmerei! Wie geistreich werdet ihr dann, in der Überlistung und Betäubung dieses Gewissens! Wie hasst ihr die Ehrlichen, Einfachen, Reinlichen, wie meidet ihr ihre unschuldigen Augen! Jenes bessere Wissen, dessen Vertreter sie sind und dessen Stimme ihr in euch selber zu laut hört, wie es an eurem Glauben zweifelt, — wie sucht ihr es zu verdächtigen, als schlechte Gewohnheit, als Krankheit der Zeit, als Vernachlässigung und Ansteckung eurer eigenen geistigen Gesundheit! Bis zum Hass gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es! Ihr müsst die Geschichte fälschen, damit sie für euch zeuge, ihr müsst Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgötter und Ideale nicht in Schatten stellen! Farbige Bilder, wo Vernunftgründe noth thäten! Gluth und Macht der Ausdrücke! Silberne Nebel! Ambrosische Nächte! Ihr versteht euch darauf, zu beleuchten und zu verdunkeln, und mit Licht zu verdunkeln! Und wirklich, wenn eure Leidenschaft in’s Toben geräth, so kommt ein Augenblick, da ihr euch sagt: jetzt habe ich mir das gute Gewissen erobert, jetzt bin ich hochherzig, muthig, selbstverleugnend, grossartig, jetzt bin ich ehrlich! Wie dürstet ihr nach diesen Augenblicken, wo eure Leidenschaft euch vor euch selber volles, unbedingtes Recht und gleichsam die Unschuld giebt, wo ihr in Kampf, Rausch, Wuth, Hoffnung ausser euch und über alle Zweifel hinweg seid, wo ihr decretirt „wer nicht ausser sich ist, wie wir, der kann gar nicht wissen, was und wo die Wahrheit ist!“ Wie dürstet ihr darnach, Menschen eures Glaubens in diesem Zustande — es ist der der Lasterhaftigkeit des Intellectes — zu finden und an ihrem Brande eure Flammen zu entzünden! Oh über euer Martyrium! Über euren Sieg der heilig gesprochenen Lüge! Müsst ihr euch so viel Leides selber anthun? — Müsst ihr? —

544.

Wie man jetzt Philosophie treibt. — Ich merke wohl: unsere philosophirenden Jünglinge, Frauen und Künstler verlangen jetzt gerade das Gegentheil dessen von der Philosophie, was die Griechen von ihr empfiengen! Wer das fortwährende Jauchzen nicht hört, welches durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen Dialogs geht, das Jauchzen über die neue Erfindung des vernünftigen Denkens, was versteht der von Plato, was von der alten Philosophie? Damals füllten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nüchterne Spiel der Begriffe, der Verallgemeinerung, Widerlegung, Engführung getrieben wurde, — mit jener Trunkenheit, welche vielleicht auch die alten grossen strengen und nüchternen Contrapunctiker der Musik gekannt haben. Damals hatte man in Griechenland den anderen älteren und ehedem allmächtigeren Geschmack noch auf der Zunge: und gegen ihn hob sich das Neue so zauberhaft ab, dass man von der Dialektik, der „göttlichen Kunst“, wie im Liebeswahnsinn sang und stammelte. Jenes Alte aber war das Denken im Banne der Sittlichkeit, für das es lauter festgestellte Urtheile, festgestellte Ursachen, keine anderen Gründe als die der Autorität gab: sodass Denken ein Nachreden war und aller Genuss der Rede und des Gesprächs in der Form liegen musste. (Überall, wo der Gehalt als ewig und allgültig gedacht wird, giebt es nur Einen grossen Zauber: den der wechselnden Form, das heisst der Mode. Der Grieche genoss auch an den Dichtern, von den Zeiten Homer’s her, und später an den Plastikern, nicht die Originalität, sondern deren Widerspiel.) Sokrates war es, der den entgegengesetzten Zauber, den der Ursache und Wirkung, des Grundes und der Folge entdeckte: und wir modernen Menschen sind so sehr an die Nothdurft der Logik gewöhnt und zu ihr erzogen, dass sie uns als der normale Geschmack auf der Zunge liegt und als solche den Lüsternen und Dünkelhaften zuwider sein muss. Was sich gegen ihn abhebt, entzückt diese: ihr feinerer Ehrgeiz möchte gar zu gerne sich glauben machen, dass ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernünftige Wesen, sondern — nun zum Beispiel „intuitive Wesen“, begabt mit dem „inneren Sinn“ oder mit der „intellectualen Anschauung“. Vor Allem aber wollen sie „künstlerische Naturen“ sein, mit einem Genius im Kopfe und einem Dämon im Leibe und folglich auch mit Sonderrechten für diese und jene Welt, namentlich mit dem Götter-Vorrecht, unbegreiflich zu sein. — Das treibt nun auch Philosophie! Ich fürchte, sie merken eines Tages, dass sie sich vergriffen haben, — das, was sie wollen, ist Religion!

545.

Aber wir glauben euch nicht! — Ihr möchtet euch gerne als Menschenkenner geben, aber wir werden euch nicht durchschlüpfen lassen! Sollen wir es nicht merken, dass ihr euch erfahrener, tiefer, erregter, vollständiger darstellt, als ihr seid? So gut wir an jenem Maler es fühlen, wie schon in der Führung seines Pinsels eine Anmaassung liegt: so gut wir es jenem Musiker anhören, dass er durch die Art, wie er sein Thema einführt, es als höher ausgeben möchte, als es ist. Habt ihr Geschichte in euch erlebt, Erschütterungen, Erdbeben, weite lange Traurigkeiten, blitzartige Beglückungen? Seid ihr närrisch gewesen mit grossen und kleinen Narren? Habt ihr den Wahn und das Wehe der guten Menschen wirklich getragen? Und das Wehe und die Art Glück der schlechtesten hinzu? Dann redet mir von Moral, sonst nicht!

546.

Sclave und Idealist. — Der Epiktetische Mensch wäre wahrlich nicht nach dem Geschmacke Derer, welche jetzt nach dem Ideale streben. Die stete Spannung seines Wesens, der nach Innen gewendete unermüdliche Blick, das Verschlossene, Vorsichtige, Unmittheilsame seines Auges, falls es sich einmal der Aussenwelt zukehrt; und gar das Schweigen oder Kurzreden: Alles Merkmale der strengsten Tapferkeit, — was wäre das für unsere Idealisten, die vor Allem nach der Expansion lüstern sind! Zu alledem ist er nicht fanatisch, er hasst die Schaustellung und die Ruhmredigkeit unserer Idealisten: sein Hochmuth, so gross er ist, will doch nicht die Anderen stören, er gesteht eine gewisse milde Annäherung zu und möchte Niemandem die gute Laune verderben, — ja er kann lächeln! Es ist sehr viel antike Humanität in diesem Ideale! Das Schönste aber ist, dass ihm die Angst vor Gott völlig abgeht, dass er streng an die Vernunft glaubt, dass er kein Bussredner ist. Epiktet war ein Sclave: sein idealer Mensch ist ohne Stand und in allen Ständen möglich, vor Allem aber wird er in der tiefen, niedrigen Masse zu suchen sein, als der Stille, Sich-Selbst-Genügende innerhalb einer allgemeinen Verknechtung, der sich nach Aussen hin für sich selber wehrt und fortwährend im Zustande der höchsten Tapferkeit lebt. Von dem Christen unterscheidet er sich vor Allem hierin, dass der Christ in Hoffnung lebt, in der Vertröstung auf „unaussprechbare Herrlichkeiten“, dass er sich beschenken lässt und das Beste von der göttlichen Liebe und Gnade, und nicht von sich, erwartet und annimmt: während Epiktet nicht hofft und sein Bestes sich nicht schenken lässt, — er besitzt es, er hält es tapfer in seiner Hand, er macht es der ganzen Welt streitig, wenn diese es ihm rauben will. Das Christenthum war für eine andere Gattung antiker Sclaven gemacht, für die willens- und vernunftschwachen, also für die grosse Masse der Sclaven.

547.

Die Tyrannen des Geistes. — Der Gang der Wissenschaft wird jetzt nicht mehr durch die zufällige Thatsache, dass der Mensch ungefähr siebenzig Jahre alt wird, gekreuzt, wie es allzulange der Fall war. Ehemals wollte Einer während dieses Zeitraumes an’s Ende der Erkenntniss kommen und nach diesem allgemeinen Gelüste schätzte man die Methoden der Erkenntniss ab. Die kleinen einzelnen Fragen und Versuche galten als verächtlich, man wollte den kürzesten Weg, man glaubte, weil Alles in der Welt auf den Menschen hin eingerichtet schien, dass auch die Erkennbarkeit der Dinge auf ein menschliches Zeitmaass eingerichtet sei. Alles mit Einem Schlage, mit Einem Worte zu lösen, — das war der geheime Wunsch: unter dem Bilde des gordischen Knotens oder unter dem des Eies des Columbus dachte man sich die Aufgabe; man zweifelte nicht, dass es möglich sei, auch in der Erkenntniss nach Art des Alexander oder des Columbus zum Ziele zu kommen und alle Fragen mit Einer Antwort zu erledigen. „Ein Räthsel ist zu lösen“: so trat das Lebensziel vor das Auge des Philosophen; zunächst war das Räthsel zu finden und das Problem der Welt in die einfachste Räthselform zusammenzudrängen. Der gränzenlose Ehrgeiz und Jubel, der „Enträthsler der Welt“ zu sein, machte die Träume des Denkers aus: Nichts schien ihm der Mühe werth, wenn es nicht das Mittel war, Alles für ihn zu Ende zu bringen! So war Philosophie eine Art höchsten Ringens um die Tyrannenherrschaft des Geistes, — dass eine solche irgend einem Sehr-Glücklichen, Feinen, Erfindsamen, Kühnen, Gewaltigen vorbehalten und aufgespart sei, — einem Einzigen! — daran zweifelte Keiner, und Mehrere haben gewähnt, zuletzt noch Schopenhauer, dieser Einzige zu sein. — Daraus ergiebt sich, dass im Grossen und Ganzen die Wissenschaft bisher durch die moralische Beschränktheit ihrer Jünger zurückgeblieben ist und dass sie mit einer höheren und grossmüthigeren Grundempfindung fürderhin getrieben werden muss. „Was liegt an mir!“ — steht über der Thür des künftigen Denkers.

548.

Der Sieg über die Kraft. — Erwägt man, was bisher Alles als „übermenschlicher Geist“, als „Genie“ verehrt worden ist, so kommt man zu dem traurigen Schlusse, dass im Ganzen die Intellectualität der Menschheit doch etwas sehr Niedriges und Armseliges gewesen sein muss: so wenig Geist gehörte bisher dazu, um sich gleich erheblich über sie hinaus zu fühlen! Ach, um den wohlfeilen Ruhm des „Genie’s“! Wie schnell ist sein Thron errichtet, seine Anbetung zum Brauch geworden! Immer noch liegt man vor der Kraft auf den Knieen — nach alter Sclaven-Gewohnheit — und doch ist, wenn der Grad von Verehrungswürdigkeit festgestellt werden soll, nur der Grad der Vernunft in der Kraft entscheidend: man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Höheres überwunden worden ist und als ihr Werkzeug und Mittel nunmehr in Diensten steht! Aber für ein solches Messen giebt es noch gar zu wenig Augen, ja zumeist wird noch das Messen des Genie’s für einen Frevel gehalten. Und so geht vielleicht das Schönste immer noch im Dunkel vor sich und versinkt, kaum geboren, in ewige Nacht, — nämlich das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk, verwendet, das heisst auf seine eigene Bändigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen. Noch immer ist der grosse Mensch gerade in dem Grössten, was Verehrung erheischt, unsichtbar wie ein zu fernes Gestirn: sein Sieg über die Kraft bleibt ohne Augen und folglich auch ohne Lied und Sänger. Noch immer ist die Rangordnung der Grösse für alle vergangene Menschheit noch nicht festgesetzt.

549.

„Selbstflucht“. — Jene Menschen der intellectuellen Krämpfe, welche gegen sich selber ungeduldig und verfinstert sind, wie Byron oder Alfred de Musset, und in Allem, was sie thun, durchgehenden Pferden gleichen, ja, die aus ihrem eigenen Schaffen nur eine kurze, die Adern fast sprengende Lust und Gluth und dann eine um so winterlichere Öde und Vergrämtheit davontragen, wie sollen sie es in sich aushalten! Sie dürsten nach einem Aufgehen in einem „Ausser-sich“; ist man mit einem solchen Durste ein Christ, so zielt man nach dem Aufgehen in Gott, nach dem „Ganz-eins-mit-ihm-werden“; ist man Shakespeare, so genügt einem erst das Aufgehen in Bildern des leidenschaftlichsten Lebens; ist man Byron, so dürstet man nach Thaten, weil diese noch mehr uns von uns abziehen, als Gedanken, Gefühle und Werke. Und so wäre vielleicht doch der Thatendrang im Grunde Selbstflucht? — würde Pascal uns fragen. Und in der That! Bei den höchsten Exemplaren des Thatendranges möchte der Satz sich beweisen lassen: man erwäge doch, mit dem Wissen und den Erfahrungen eines Irrenarztes, wie billig, — dass Vier von den Thatendurstigsten aller Zeiten Epileptiker gewesen sind (nämlich Alexander, Cäsar, Muhammed und Napoleon): so wie auch Byron diesem Leiden unterworfen war.

550.

Erkenntniss und Schönheit. — Wenn die Menschen, so wie sie immer noch thun, ihre Verehrung und ihr Glücksgefühl für die Werke der Einbildung und der Verstellung gleichsam aufsparen, so darf es nicht Wunder nehmen, wenn sie sich beim Gegensatz der Einbildung und Verstellung kalt und unlustig finden. Das Entzücken, welches schon beim kleinsten sicheren endgültigen Schritt und Fortschritt der Einsicht entsteht und welches aus der jetzigen Art der Wissenschaft so reichlich und schon für so Viele herausströmt, — dieses Entzücken wird einstweilen von allen Denen nicht geglaubt, welche sich daran gewöhnt haben, immer nur beim Verlassen der Wirklichkeit, beim Sprung in die Tiefen des Scheins entzückt zu werden. Diese meinen, die Wirklichkeit sei hässlich: aber daran denken sie nicht, dass die Erkenntniss auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist, ebenso dass wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glück gab, hässlich zu finden. Giebt es denn etwas „an sich Schönes“? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; — möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben! Inzwischen gedenken wir einer alten Erfahrung: zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles, kamen in dem überein, was das höchste Glück ausmache, nicht nur für sie oder für Menschen, sondern an sich, selbst für Götter der letzten Seligkeiten: sie fanden es im Erkennen, in der Thätigkeit eines wohlgeübten findenden und erfindenden Verstandes (nicht etwa in der „Intuition“, wie die deutschen Halb- und Ganztheologen, nicht in der Vision, wie die Mystiker, und ebenfalls nicht im Schaffen, wie alle Praktiker). Ähnlich urtheilten Descartes und Spinoza: wie müssen sie Alle die Erkenntniss genossen haben! Und welche Gefahr für ihre Redlichkeit, dadurch zu Lobrednern der Dinge zu werden! —

551.

Von zukünftigen Tugenden. — Wie kommt es, dass, je begreiflicher die Welt geworden ist, um so mehr die Feierlichkeit jeder Art abgenommen hat? Ist es, dass die Furcht so sehr das Grundelement jener Ehrfurcht war, welche uns bei allem Unbekannten, Geheimnissvollen überfiel und uns vor dem Unbegreiflichen niedersinken und um Gnade bitten lehrte? Und sollte die Welt dadurch, dass wir weniger furchtsam geworden sind, nicht auch an Reiz für uns verloren haben? Sollte mit unserer Furchtsamkeit nicht auch unsre eigene Würde und Feierlichkeit, unsre eigene Furchtbarkeit, geringer geworden sein? Vielleicht, dass wir die Welt und uns selber geringer achten, seit wir muthiger über sie und uns denken? Vielleicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des Denkens so angewachsen sein wird, dass er als der äusserste Hochmuth sich über den Menschen und Dingen fühlt, — wo der Weise als der am meisten Muthige sich selber und das Dasein am meisten unter sich sieht? — Diese Gattung des Muthes, welche nicht ferne einer ausschweifenden Grossmuth ist, fehlte bisher der Menschheit. — Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen: — Seher, die uns Etwas von dem Möglichen erzählen! Jetzt, da ihnen das Wirkliche und das Vergangene immer mehr aus den Händen genommen wird und werden muss, — denn die Zeit der harmlosen Falschmünzerei ist zu Ende! Wollten sie uns von den zukünftigen Tugenden Etwas vorausempfinden lassen! Oder von Tugenden, die nie auf Erden sein werden, obschon sie irgendwo in der Welt sein könnten, — von purpurnglühenden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schönen! Wo seid ihr, ihr Astronomen des Ideals?

552.

Die idealische Selbstsucht. — Giebt es einen weihevolleren Zustand, als den der Schwangerschaft? Alles, was man thut, in dem stillen Glauben thun, es müsse irgendwie dem Werdenden in uns zu Gute kommen! Es müsse seinen geheimnissvollen Werth, an den wir mit Entzücken denken, erhöhen! Da geht man Vielem aus dem Wege, ohne hart sich zwingen zu müssen! Da unterdrückt man ein heftiges Wort, man giebt versöhnlich die Hand: aus dem Mildesten und Besten soll das Kind hervorwachsen. Es schaudert uns vor unsrer Schärfe und Plötzlichkeit: wie wenn sie dem geliebtesten Unbekannten einen Tropfen Unheil in den Becher seines Lebens gösse! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, man weiss von Nichts, wie es zugeht, man wartet ab und sucht bereit zu sein. Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefühl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhang hat, — es wächst, es tritt an den Tag: wir haben Nichts in der Hand, zu bestimmen, weder seinen Werth, noch seine Stunde. Einzig auf jeden mittelbaren segnenden und wehrenden Einfluss sind wir angewiesen. „Es ist etwas Grösseres, das hier wächst, als wir sind“ ist unsere geheimste Hoffnung: ihm legen wir Alles zurecht, dass es gedeihlich zur Welt komme: nicht nur alles Nützliche, sondern auch die Herzlichkeiten und Kränze unserer Seele. — In dieser Weihe soll man leben! Kann man leben! Und sei das Erwartete ein Gedanke, eine That, — wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der Schwangerschaft und sollten das anmaassliche Reden von „Wollen“ und „Schaffen“ in den Wind blasen! Diess ist die rechte idealische Selbstsucht: immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, dass unsere Fruchtbarkeit schön zu Ende gehe! So, in dieser mittelbaren Art sorgen und wachen wir für den Nutzen Aller; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein Öl, welches sich weit um uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. — Aber wunderlich sind die Schwangeren! Seien wir also auch wunderlich und verargen wir es den Anderen nicht, wenn sie es sein müssen! Und selbst, wo diess in’s Schlimme und Gefährliche sich verläuft: bleiben wir in der Ehrfurcht vor dem Werdenden nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit zurück, welche dem Richter und dem Henker nicht erlaubt, eine Schwangere zu berühren!

553.

Auf Umwegen. — Wohin will diese ganze Philosophie mit allen ihren Umwegen? Thut sie mehr, als einen stäten und starken Trieb gleichsam in Vernunft zu übersetzen, einen Trieb nach milder Sonne, heller und bewegter Luft, südlichen Pflanzen, Meeres-Athem, flüchtiger Fleisch-, Eier- und Früchtenahrung, heissem Wasser zum Getränke, tagelangen stillen Wanderungen, wenigem Sprechen, seltenem und vorsichtigem Lesen, einsamem Wohnen, reinlichen, schlichten und fast soldatischen Gewohnheiten, kurz nach allen Dingen, die gerade mir am besten schmecken, gerade mir am zuträglichsten sind? Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct für eine persönliche Diät ist? Ein Instinct, welcher nach meiner Luft, meiner Höhe, meiner Witterung, meiner Art Gesundheit durch den Umweg meines Kopfes sucht? Es giebt viele andere und gewiss auch viele höhere Erhabenheiten der Philosophie, und nicht nur solche, welche düsterer und anspruchsvoller sind, als die meinen, — vielleicht sind auch sie insgesammt nichts Anderes, als intellectuelle Umwege derartig persönlicher Triebe? — Inzwischen sehe ich mit einem neuen Auge auf das heimliche und einsame Schwärmen eines Schmetterlings, hoch an den Felsenufern des See’s, wo viele gute Pflanzen wachsen: er fliegt umher, unbekümmert darum, dass er nur das Leben Eines Tages noch lebt, und dass die Nacht zu kalt für seine geflügelte Gebrechlichkeit sein wird. Es würde sich wohl auch für ihn eine Philosophie finden lassen: ob es schon nicht die meine sein mag. —

554.

Vorschritt. — Wenn man den Fortschritt rühmt, so rühmt man damit nur die Bewegung und Die, welche uns nicht auf der Stelle stehen bleiben lassen, — und damit ist gewiss unter Umständen viel gethan, insonderheit, wenn man unter Ägyptern lebt. Im beweglichen Europa aber, wo sich die Bewegung, wie man sagt, „von selber versteht“ — ach, wenn wir nur auch Etwas davon verstünden! — lobe ich mir den Vorschritt und die Vorschreitenden, das heisst Die, welche sich selber immer wieder zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt. „Wo ich Halt mache, da finde ich mich allein: wozu sollte ich Halt machen! Die Wüste ist noch gross!“ — so empfindet ein solcher Vorschreitender.

555.

Die geringsten genügen schon. — Man soll den Ereignissen aus dem Wege gehen, wenn man weiss, dass die geringsten sich schon stark genug auf uns einzeichnen, — und diesen entgeht man doch nicht. — Der Denker muss einen ungefähren Kanon aller der Dinge in sich haben, welche er überhaupt noch erleben will.

556.

Die guten Vier. — Redlich gegen uns und was sonst uns Freund ist; tapfer gegen den Feind; grossmüthig gegen den Besiegten; höflich — immer: so wollen uns die vier Cardinaltugenden.

557.

Auf einen Feind los. — Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Gründe, wenn man auf einen Feind los marschirt!

558.

Aber auch nicht seine Tugenden verbergen! — Ich liebe die Menschen, welche durchsichtiges Wasser sind und die, mit Pope zu reden, auch „die Unreinlichkeiten auf dem Grunde ihres Stromes sehen lassen.“ Selbst für sie giebt es aber noch eine Eitelkeit, freilich von seltener und sublimirter Art: Einige von ihnen wollen, dass man eben nur die Unreinlichkeiten sehe und die Durchsichtigkeit des Wassers, die diess möglich macht, für Nichts achte. Kein Geringerer, als Gotama Buddha, hat die Eitelkeit dieser Wenigen erdacht, in der Formel: „lasset eure Sünden sehen vor den Leuten und verberget eure Tugenden!“ Diess heisst aber der Welt kein gutes Schauspiel geben, — es ist eine Sünde wider den Geschmack.

559.

„Nichts zu sehr!“ — Wie oft wird dem Einzelnen angerathen, sich ein Ziel zu setzen, das er nicht erreichen kann und das über seine Kräfte geht, um so wenigstens Das zu erreichen, was seine Kräfte bei der allerhöchsten Anspannung leisten können! Ist diess aber wirklich so wünschenswerth? Bekommen nicht nothwendig die besten Menschen, die nach dieser Lehre leben, und ihre besten Handlungen etwas Übertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist? Und verbreitet sich nicht ein grauer Schimmer von Erfolglosigkeit dadurch über die Welt, dass man immer kämpfende Athleten, ungeheure Gebärden und nirgends einen bekränzten und siegesgemuthen Sieger sieht?

560.

Was uns frei steht. — Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst an Spalieren; man kann es thun mit dem guten und dem schlechten Geschmack eines Gärtners und gleichsam in französischer oder englischer oder holländischer oder chinesischer Manier, man kann auch die Natur walten lassen und nur hier und da für ein Wenig Schmuck und Reinigung sorgen, man kann endlich auch ohne alles Wissen und Nachdenken die Pflanzen in ihren natürlichen Begünstigungen und Hindernissen aufwachsen und unter sich ihren Kampf auskämpfen lassen, — ja, man kann an einer solchen Wildniss seine Freude haben und gerade diese Freude haben wollen, wenn man auch seine Noth damit hat. Diess Alles steht uns frei: aber wie Viele wissen denn davon, dass uns diess frei steht? Glauben nicht die Meisten an sich wie an vollendete ausgewachsene Thatsachen? Haben nicht grosse Philosophen noch ihr Siegel auf diess Vorurtheil gedrückt, mit der Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters?

561.

Sein Glück auch leuchten lassen. — Wie die Maler, welche den tiefen, leuchtenden Ton des wirklichen Himmels auf keine Weise erreichen können, genöthigt sind, alle Farben, die sie zu ihrer Landschaft brauchen, um ein paar Töne niedriger zu nehmen, als die Natur sie zeigt: wie sie durch diesen Kunstgriff wieder eine Ähnlichkeit im Glanze und eine Harmonie der Töne erreichen, welche der in der Natur entspricht: so müssen sich auch Dichter und Philosophen zu helfen wissen, denen der leuchtende Glanz des Glückes unerreichbar ist; indem sie alle Dinge um einige Grade dunkler färben, als sie sind, wirkt ihr Licht, auf welches sie sich verstehen, beinahe sonnenhaft und dem Lichte des vollen Glücks ähnlich. — Der Pessimist, der die schwärzesten und düstersten Farben allen Dingen giebt, verbraucht nur Flammen und Blitze, himmlische Glorien und Alles, was grelle Leuchtkraft hat und die Augen unsicher macht; bei ihm ist die Helle nur dazu da, das Entsetzen zu vermehren und mehr Schreckliches in den Dingen ahnen zu lassen, als sie haben.

562.

Die Sesshaften und die Freien. — Erst in der Unterwelt zeigt man uns Etwas von dem düsteren Hintergrunde aller jener Abenteurer-Seligkeit, welche um Odysseus und Seinesgleichen wie ein ewiges Meeresleuchten liegt, — von jenem Hintergrunde, den man dann nicht mehr vergisst: die Mutter des Odysseus starb aus Gram und Verlangen nach ihrem Kinde! Den Einen treibt es von Ort zu Ort, und dem Andern, dem Sesshaften und Zärtlichen, bricht das Herz darüber: so ist es immer! Der Kummer bricht Denen das Herz, welche es erleben, dass gerade ihr Geliebtester ihre Meinung, ihren Glauben verlässt, — es gehört diess in die Tragödie, welche die freien Geister machen, — um die sie mitunter auch wissen! Dann müssen sie auch wohl einmal, wie Odysseus, zu den Todten steigen, um ihren Gram zu heben und ihre Zärtlichkeit zu beschwichtigen.

563.

Der Wahn der sittlichen Weltordnung. — Es giebt gar keine ewige Nothwendigkeit, welche forderte, dass jede Schuld gebüsst und bezahlt werde, — es war ein schrecklicher, zum kleinsten Theile nützlicher Wahn, dass es eine solche gebe —: ebenso wie es ein Wahn ist, dass Alles eine Schuld ist, was als solche gefühlt wird. Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über Dinge, die es gar nicht giebt, haben die Menschen so verstört!

564.

Gleich neben der Erfahrung! — Auch grosse Geister haben nur ihre fünf Finger breite Erfahrung, — gleich daneben hört ihr Nachdenken auf: und es beginnt ihr unendlicher leerer Raum und ihre Dummheit.

565.

Würde und Unwissenheit im Bunde. — Wo wir verstehen, da werden wir artig, glücklich, erfinderisch, und überall, wo wir nur genug gelernt und uns Augen und Ohren gemacht haben, zeigt unsere Seele mehr Geschmeidigkeit und Anmuth. Aber wir begreifen so Wenig und sind armselig unterrichtet, und so kommt es selten dazu, dass wir eine Sache umarmen und uns dabei selber liebenswerth machen: vielmehr gehen wir steif und unempfindlich durch die Stadt, die Natur, die Geschichte und bilden uns Etwas auf diese Haltung und Kälte ein, als ob sie eine Wirkung der Überlegenheit sei. Ja, unsere Unwissenheit und unser geringer Durst nach Wissen verstehen sich trefflich darauf, als Würde, als Charakter einherzustolzieren.

566.

Wohlfeil leben. — Die wohlfeilste und harmloseste Art zu leben ist die des Denkers: denn, um gleich das Wichtigste zu sagen, er bedarf gerade der Dinge am meisten, welche die Anderen geringschätzen und übriglassen —. Sodann: er freut sich leicht und kennt keine kostspieligen Zugänge zum Vergnügen; seine Arbeit ist nicht hart, sondern gleichsam südländisch; sein Tag und seine Nacht werden nicht durch Gewissensbisse verdorben; er bewegt sich, isst, trinkt und schläft nach dem Maasse, dass sein Geist immer ruhiger, kräftiger und heller werde; er freut sich seines Leibes und hat keinen Grund, ihn zu fürchten; er bedarf der Geselligkeit nicht, es sei denn von Zeit zu Zeit, um hinterher seine Einsamkeit um so zärtlicher zu umarmen; er hat an den Todten Ersatz für Lebende, und selbst für Freunde einen Ersatz: nämlich an den Besten, die je gelebt haben. — Man erwäge, ob nicht die umgekehrten Gelüste und Gewohnheiten es sind, welche das Leben der Menschen kostspielig, und folglich mühsam, und oft unausstehlich machen. — In einem anderen Sinne freilich ist das Leben des Denkers das kostspieligste, — es ist Nichts zu gut für ihn; und gerade des Besten zu entbehren wäre hier eine unerträgliche Entbehrung.

567.

Im Felde. — „Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen; zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen.“ — So sprechen brave Soldaten der Erkenntniss.

568.

Dichter und Vogel. — Der Vogel Phönix zeigte dem Dichter eine glühende und verkohlende Rolle. „Erschrick nicht! sagte er, es ist dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit und noch weniger den Geist Derer, die gegen die Zeit sind: folglich muss es verbrannt werden. Aber diess ist ein gutes Zeichen. Es giebt manche Arten von Morgenröthen.“

569.

An die Einsamen. — Wenn wir die Ehre anderer Personen nicht in unseren Selbstgesprächen ebenso schonen, wie in der Öffentlichkeit, so sind wir unanständige Menschen.

570.

Verluste. — Es giebt Verluste, welche der Seele eine Erhabenheit mittheilen, bei der sie sich des Jammerns enthält und sich wie unter hohen schwarzen Cypressen schweigend ergeht.

571.

Feld-Apotheke der Seele. — Welches ist das stärkste Heilmittel? — Der Sieg.

572.

Das Leben soll uns beruhigen. — Wenn man, wie der Denker, für gewöhnlich in dem grossen Strome des Gedankens und Gefühls lebt, und selbst unsere Träume in der Nacht diesem Strome folgen: so begehrt man vom Leben Beruhigung und Stille, — während Andere gerade vom Leben ausruhen wollen, wenn sie sich der Meditation übergeben.

573.

Sich häuten. — Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zu Grunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hören auf, Geist zu sein.

574.

Nicht zu vergessen! — Je höher wir uns erheben, um so kleiner erscheinen wir Denen, welche nicht fliegen können.

575.

Wir Luft-Schifffahrer des Geistes! — Alle diese kühnen Vögel, die in’s Weite, Weiteste hinausfliegen, — gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken — und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schliessen, dass es vor ihnen keine ungeheuere freie Bahn mehr gebe, dass sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere grossen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andere Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Schaaren viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir strebten, und wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist! — Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsägen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, — dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? —