Nietzsche | Vorspiel des Parsifal | hat Wagner je Etwas besser gemacht? | das größte Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne | einen so schwermüthigen Blick der Liebe

Briefe von Nietzsche

An Heinrich Köselitz in Venedig Nice (France) rue des Ponchettes 29 au premier

<21. Januar 1887>

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Zuletzt — neulich hörte ich zum ersten Male die Einleitung zum Parsifal (nämlich in Monte-Carlo!) Wenn ich Sie wiedersehe, will ich Ihnen genau sagen, was ich da verstand. Abgesehn übrigens von allen unzugehörigen Fragen (wozu solche Musik dienen kann oder etwa dienen soll?) sondern rein ästhetisch gefragt: hat Wagner je Etwas besser gemacht? Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in Bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt, mitgetheilt werden soll, die kürzeste und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis aufs Epigrammatische gebracht; eine Deutlichkeit der Musik als descriptiver Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt; und, zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefühl, Erlebniß, Ereigniß der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die höchste Ehre macht, eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, auch „höheren Menschen“, als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von „Höhe“ im erschreckenden Sinne des Worts, von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet — und von Mitleiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird. Dergleichen giebt es bei Dante, sonst nicht. Ob je ein Maler einen so schwermüthigen Blick der Liebe gemalt hat als W<agner> mit den letzten Accenten seines Vorspiels? —

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Nachgelassene Fragmente

[5 = N VII 3. Sommer 1886 — Herbst 1887]

5[41]

Vorspiel des P<arsifal>, größte Wohlthat, die mir seit langem erwiesen ist. Die Macht und Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts, was das Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl brächte. Ganz erhoben und ergriffen — kein Maler hat einen so unbeschreiblich schwermüthigen und zärtlichen Blick gemalt wie Wagner

die Größe im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, aus der etwas von Mitleiden quillt:

das größte Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, ein unbeschreiblicher Ausdruck von Größe im Mitleiden darüber; kein Maler hat einen solchen dunklen, schwermüthigen zärtlichen Blick gemalt wie Wagner in dem letzten Theile des Vorspiels. Auch Dante nicht, auch Leonardo nicht.

Wie als ob seit vielen Jahren endlich einmal Jemand zu mir über die Probleme redete, die mich bekümmern, nicht natürlich mit den Antworten, die ich eben dafür bereit halte, sondern mit den christlichen — welche zuletzt die Antwort stärkerer Seelen gewesen ist als unsere letzten beiden Jahrhunderte hervorgebracht haben. Man legt allerdings beim Hören dieser Musik das Protestant<ische> wie ein Mißverständniß bei Seite: so wie die Musik Wagners in Montecarlo mich dazu brachte, wie ich nicht leugnen will, auch die sonst gehörte sehr gute Musik (Haydn Berlioz Brahms Reyers Sigurd-Ouvertüre) ebenfalls wie ein Mißverständniß der Musik bei Seite zu legen. Sonderbar! Als Knabe hatte ich mir die Mission zugedacht, das Mysterium auf die Bühne zu bringen; — — —