Nietzsche
An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Sils-Maria, kurz nach dem 20. Juli 1888>
Lieber Freund
ich schreibe Dir noch ein paar Worte, doch ganz für uns, ganz unter uns. Die Schwierigkeit, in der ich lebe, ist außerordentich; doch liegt sie nicht dort, wo Du und andere Freunde sie suchen. Ich weiß kaum, sie begreiflich zu machen. Aber seit der Zeit, wo ich meinen Z<arathustra> auf dem Gewissen habe, bin ich wie ein Thier, das auf eine unbeschreibliche Weise fortwährend verwundet wird. Diese Wunde besteht darin, keine Antwort, keinen Hauch von Antwort gehört zu haben… Dies Buch steht so abseits, ich möchte sagen jenseits aller Bücher, daß es eine vollkommene Qual ist, es geschaffen zu haben — es stellt seinen Schöpfer ebenso abseits, ebenso jenseits. Ich wehre mich gegen eine Art Schlinge, die mich erwürgen will — das ist die Vereinsamung — ich verstehe es andererseits aus aller Tiefe, warum mir Niemand ein Wort sagen kann, das mich noch erreicht… Die Moral ist: man kann daran zu Grunde gehen etwas Unsterbliches gemacht zu haben: man büßt es hinterdrein in jedem Augenblick ab. Es verdirbt den Charakter, es verdirbt den Geschmack, es verdirbt die Gesundheit. Sechs Sätze jenes Buches zu verstehen und erlebt zu haben — das scheint mir Jeden bereits in eine höhere, fremdere Ordnung des Sterblichen zu heben. Aber die ganze Welt jenes Buches, die unausmeßlich schwere Welt von Tiefe, von Ferne, von Noch-niemals-bisher Gesehenem und Geschehenem auf sich haben und nach einem Versuch, sie mitzutheilen d. h. ihre Last sich geringer zu machen, der todten stupiden Einsamkeit sich gegenüber zu finden, ist ein Gefühl über alle Gefühle.
Ich wehre mich, wie Du denken kannst, mit viel Erfindsamkeit gegen diesen Excess des Gefühls. Meine letzten Bücher gehören dahin: sie sind leidenschaftlicher als Alles, was ich sonst gemacht habe. Die Leidenschaft betäubt. Sie thut mir wohl, sie macht ein wenig vergessen… Ich bin außerdem Artist genug, um einen Zustand festhalten zu können, bis er Form, bis er Gestalt wird. Ich habe, mit Willkür, mir jene Typen erfunden, die in ihrer Verwegenheit mir Vergnügen machen, z. B. den „Immoralisten“ — einen bisher unerhörten Typus. Jetzt eben wird ein kleines Pamphlet musik<alischer> Natur gedruckt, das von der heitersten Laune eingegeben scheint: auch die Heiterkeit betäubt. Sie thut mir wohl, sie macht vergessen… Ich lache wirklich sehr viel bei solchen Erzeugnissen —
Die Schwierigkeit, eine Distraktion zu finden, die stark genug <sei>, wird immer größer. Ich bin mitunter auf eine unbeschreibliche <Weise> melancholisch.
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Brief AN Franz Overbeck: 20/07/1888
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